Startseite | Menü einblenden | Übersicht: Sonntagsbriefe | 25.02.79 | 15.04.79 |
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Die Kirche reckt sich auf zu freudigem Hin-Blick zur Erlösung – kurz bevor Sein Leiden anhebt. Sie wird mit Ihm weinen und klagen, zittern und zagen. Heute aber faßt sie den Trost ins Auge, um nicht zu vergessen, warum Er leidet – und um nicht zu vergessen, warum ihre Glieder leiden – Du und ich. –
Was trieb die Menge zum Haß gegen Jesus? Warum schrieen dieselben, die Ihn umjubelt hatten: "Kreuzige Ihn!"?
Sie waren enttäuscht.
Warum waren sie enttäuscht? Weil sie Sensationen erhofft hatten. – Mit jeder Sensationslust ist verbunden: Haß. Die Masse will hassen. Und sie wird giftig und böse, wenn man ihr das Vergnügen des Hasses ausreden will. Daß Er die Händler und Wechsler aus dem Tempel trieb, hat im Pöbel prickelnde Erwartung ausgelöst: "Ha, jetzt wird Er weiterschlagen! Er wird die Machthaber stürzen, die Römer vertreiben. Jetzt beginnt ein herrliches Schlachtfest! Hosanna! Heil!"
Er wollte aber nur ein Zeichen Seiner Macht und Hoheit setzen und Sich erweisen als Anwalt der Ehre Seines Vaters und Seines Heiligtums, als der Urbefugte, als der Herr des Tempels. Er wollte das Thema des großen Weges angeben, den Er zu schreiten anhub: des Vaters Verherrlichung!
Aber Gedanken der Verantwortung, Dienst am Wesen der Welt, Liebe für die Menschen – dies alles ist der Masse fremd. Kommt man ihr damit, so brüllt sie auf in Wut. Sie will keine Langeweile – und "Ehre des Vaters – Heil der Menschen" langweilt sie. Sie wollen Rache. Sie wollen Gedemütigte sehen, Bloßgestellte, sich Windende. Sie wollen lachend die Erniedrigung der Feinde genießen.
Das hat Jesus ihnen nicht geboten. Er hat ihnen den Haß vermasseln wollen. Um so mehr hassen sie nun. IHN hassen sie nun. –
Wie ist das doch stets neu erfahrbar, wenn man mit Menschen zu tun hat! Die Masse lebt in jedem Einzelnen als grausige Möglichkeit seiner Selbstverfälschung. In jedem kann Masse sich durchsetzen zu seinem Schaden und Unheil. Kein 'Bildungsgrad' schützt vor dieser Möglichkeit, was sich immer wieder erweist.
Irgend jemand hofft in seinem – noch so berechtigten – Sinne auf Zuspitzung, Triumph, spektakuläre Ereignisse, ist schon fasziniert und vibriert vor Erwartung. So schnell kommt es aber nicht, was er erhofft. Eine glühend schon vorweggenommene Sensation geht vorbei, ohne einzutreten. Der vermeintlich um seine Hoffnung Betrogene stampft auf wie ein trotziges Kind, und statt sich seine Unreife einzugestehen, nimmt er seine Zuflucht zum primitiven Narkotikum eigengebastelter Ideologien, Selbsttäuschungen und Verdächtigungen.
Das ist die Masse im Menschen.
Diese Masse stampft auf und trotzt gegen Christus, weil sie ihre plumpen Erwartungen nicht erfüllt sieht, nennt Ihn feige, einen Betrüger, Verführer, Aufwiegler: "Ei, der da hat es doch gesagt, er wolle den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen!" Sie hat Ihn natürlich nicht verstanden, die Masse. Sie hätte so gerne das Schauspiel des Niederreißens gesehen. Aber nun sehen sie nichts. Immer will der Pöbel sehen. "Wenn du der Sohn Gottes bist, so stell' dich auf die Zinne des Tempels und stürze dich heil hinab!"
"Selig, die nicht sehen und doch glauben!"
Aber das ist anstrengend und kostet den langen Atem heilig-sicheren Wissens aus dem Geiste heraus! Jeder von uns – und jeder von uns hat es bitter nötig! – bedenke, ob er nicht zu Jesu Feinden gehört hätte – damals...
Es grüßt Euch alle von Herzen
Euer Pfarrer Hans Milch.