Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
Christmette 1985
Meine lieben Brüder und Schwestern,
wir haben die Botschaft von der heiligen Nacht gehört. Sie spricht aus, was unauslöschlich in der Tiefe der Menschenseele ruht und sich bei allen wenigstens ahnend anmeldet, die guten Willens sind, angesichts dieses Festes. "Weihnachten", "Weihe-Nacht": ein sehr glückliches, ein sehr gutes Wort für das gewaltige Ereignis – "Weihe-Nacht". Danach sehnen sich die Menschen, besonders in dieser wirren, irren Zeit, in dieser gnadenlosen Zeit der Hektik, der Ellenbogen des furchtbaren Druckes, unter dem die Menschen den Tag hindurch stehen. Die Menschen wollen aus dem Tag heraus in die heilige Nacht. Sie wissen sich bedroht von vielerlei Unvorhersehbarkeiten und leben in Angst. Und darum wollen sie die Augen schließen und sich einem grenzenlos kosenden, liebenden Erbarmen anvertrauen. Und eben haben wir erfahren, daß diesem Willen Erfüllung zuteil geworden ist. Die Menschen wollen die heilige Nacht, die Menschen, in denen noch ein Rest von Menschenwürde und von Wesenheit geblieben ist.
Kürzlich sprach ich mit einem einfachen Menschen. Und es ist ja wunderbar, sich mit einfachen Menschen zu unterhalten – nicht mit primitiven, sondern im Gegenteil, einfachen Menschen. Ein einfacher Mann, fest, männlich, derb, aber in ihm kam dieses Verlangen zum Ausdruck, zurückzukehren in den Schoß der Nacht. Es ist das nicht zu bändigende Verlangen, in den Schoß der Mutter zurückzukehren. Letztlich ist die ganze Religion nichts anderes als Rückkehr in den Schoß der Mutter, was Nikodemus so zweifelnd fragt: "Kann denn der Mensch in den Schoß seiner Mutter zurückkehren, um noch einmal geboren zu werden?" Im eigentlichen, im wahren, tiefen Sinne kann er es wohl: Zurückkehren dorthin, wo er sich geborgen weiß, gesichert, angenommen, bejaht, erkannt, geliebt, umhegt, wo heilige Nacht waltet. Denn der Schoß der Mutter ist ein heiliges Sinnbild, eine geheimnisvoll sakramentale Verwirklichung des Urschoßes des Vaters, in dem wir von Ewigkeit an, Du und ich, als Gedanke eingewoben sind und leben. Aus diesem Schoße kommen wir. Zu diesem Schoße wollen wir zurück. Und ich sagte, dieser einfache Mann, der wollte die alten, nächtigen Symbole, hielt an ihnen fest von der Kindheit her. Es war rührend zu sehen, wie er sich nach Zuflucht sehnte, um die alten Symbole aufrechtzuerhalten. Und er sagte mir, wie er geradezu körperlich darunter leide, daß an Weihnachten kein Schnee liege. Ich bin weit entfernt, darüber zu lächeln, denn dieses Leuchten des Schnees ist ein Sinnbild für das Licht der Nacht, das viel stärker ist, intensiver leuchtend als das fahle, fade Licht des Tages. Es ist einfach dieses Wunderbare, wonach die Menschen verlangen, jenseits des Jordans, wo Johannes taufte und sie zur Umkehr, zur heiligen Rückkehr ermahnt.
Sehen Sie, es ist das wichtigste, das Kind zum Staunen hinzuführen, um das zu erwecken, was den Kern der Menschenwürde ausmacht: Staunen! Ein Mensch mag intellektuell noch so hoch getrimmt sein: Wenn ihm das Staunen fehlt, ist alles nichts! Das Staunen ist das Mark der Liebe. Im Staunen öffnet sich der Mensch, und nur der sich öffnende Mensch kann sich finden. Dieses In-Spannung-Halten, dieses Vorbereiten, daß man das Weihnachtszimmer mit Geheimnis umgibt und verschließt: hier begibt sich Himmlisches, Übernatürliches, Unaussprechliches. Das Glöcklein läutet und die Türe geht auf und der Baum erstrahlt. Das bange Herzklopfen des Kindes, das heilige Beben davor: Ein Kind, in dem das eingesenkt ist, wird immer wieder irgendwann kommen! Da braucht man nichts zu fürchten. Aber es ist grausig zu sehen, wieviele Kinder an der Oberfläche taumeln und sich tummeln und an diesem Geheimnis, an dieser wunderbaren Spannung vorübergehen, wo alles hineingemummt wird ins Fahle, Banale, in das Vielerlei, in das Geschwätzige des Tages, wie es ja unsere heidnische Gesellschaft seit Wochen unternimmt, das Weihnachtsgeheimnis hineinzumanövrieren in die Sinnlosigkeit hektischen, lauten, lärmenden Betriebes, eines Betriebes, der alles niederwalzt, die Seelen niederwalzt. Rummel und Trubel, wo große Stille, heilige Erwartung sein sollte! Und immer wieder findet man verstreut über die Menge die einzelnen, die die große Sehnsucht bewahrt haben.
Wie soll ich diese Sehnsucht ausdrücken? – Mit geschlossenen Augen sich dem Erbarmen anvertrauen: In diesem Satz ist alles enthalten. Menschen, die in Sünde verstrickt am Boden liegen – und wieviele lernt ein Seelsorger kennen, die verzweifelt, ausgestoßen, ausweglos am Boden liegen –, sie wollen die Augen schließen. Alles, was von außen ihnen kommt, ist Bedrohung, Verachtung, Grausamkeit, Eiseskälte. Nun, wenn sie die Augen schließen, vergeht dieses bedrohliche Vielerlei, und das eine, was not tut, kann sich offenbaren. Augen schließen: wieviele Menschen wollen dies. "Könnte ich doch die Augen schließen und nichts mehr sehen!" Und dort, wo der Mensch anfängt, die Augen schließen zu wollen, da bedürfen sie nur eines kleinen Winkes, daß ihnen gesagt wird: "Du schließt die Augen und da ist Er, nicht draußen, sondern drinnen." Die heilige Nacht ist das Sinnbild des Innen, dort, wo die Grenzen verschwimmen, wo die Endlosigkeit sich auftut, wo die Geheimnisse aufrauschen – die Nacht, die Nacht des Schoßes der Erde. "‚Tauet Himmel den Gerechten. Wolken regnet Ihn herab.' Tu dich auf, Erde, und laß hervorsprießen den Erlöser!" Drinnen in der Tiefe, in der nächtigen, da leuchtet das Licht. Das wahre Licht leuchtet in der Nacht. Soviele wollen sich abkehren vom Getümmel und wollen die Augen schließen, um nach Innen eine Fahrt anzutreten. Sie wollen es unbewußt. Es fehlt ihnen nur der, der Mut macht und sagt, daß nach innen eine unendliche Raumfahrt sich eröffnet, eine höchst aufregende, eine höchst abenteuerliche Raumfahrt: Weite ohne Ferne, Nähe ohne Enge. Denn drinnen, da ist das Erbarmen! Gott ist Mensch geworden, und Er strahlt in der Nacht. In der Nacht kommt das Licht.
Was ist das für ein Licht? – Das Licht des Kindes. Es gibt nichts Herrlicheres als das Kind, das ganz kleine Kind mit seinem Lächeln, mit seinem Blick: Mutter und Kind. Rauheste Männer wollten immer zur Mutter zurück. Dort ist der Sinn, Ausgangspunkt und Endpunkt – die Mutter! Und das Kind, das sie an sich zieht, das sie nährt – und während sie es nährt, vereinigen sich die Blicke –: beide graben die Blicke ineinander. Große Einheit, Liebe erblüht und erglänzt: Mutter und Kind! Wer je eines Kindes ansichtig war, bewußt, der kann nie mehr ganz verzweifeln. Er hat dem Sinn der Welt ins Auge geschaut. Er weiß warum. Ganze Unschuld, Zutraulichkeit, Unbefangenheit, fraglos: so stellt sich ein Kind dar. Fraglos fragen. Es forscht nicht tückisch aus. Es sitzt auf keinem Richterstuhl. Es fragt nur in demütigem Liebesstaunen, um des Lichtes mehr und mehr Gewahr zu werden. Es tastet kosend sich an alle Dinge heran. Und daß Gott das Erbarmen ist, das eben ist die Offenbarung im Kinde. Da wollte Er zeigen: Nun sollt ihr es wissen: Seht, Gott ist ein Kind!
Schauererregend dieser Anblick. Die Kleinen sind keine Kleinigkeit. Das Kind ist nichts, über das man hinweggeht. Es gibt nichts Wichtigeres als das kleine Kind! Die dem Tag Verfallenen, dem Zweck, die nur nach materiellem Nutzen, Notdurft und Notwendigkeit fragen, die freiwillig Gebundenen, die Sklaven des tückischen Tages halten ein spielendes, kosendes Kind für etwas höchst Unwichtiges. Wir leben in diesem Jahrhundert als in einem Jahrhundert des Tages, des platten, nüchternen, schneidenden, verräterischen Tages, der uns die Nahrung verweigert und die Berge. Aber das Kind ist nachtgeboren und nachterblüht. Es kost und spielt. Gott kommt, läßt mit Sich kosen, läßt mit Sich spielen. Gott können wir küssen. Gott legt Sein Ärmchen um Deinen und meinen Hals. Wir können Gott an uns drücken. Bedenke das! Gott wird für Dich zum Kind, um Dir deutlich zu machen: Hier waltet Ehrfurcht. Hier ist geboten heilige Schauer großen Staunens – aber keine Angst! Mit der Angst ist es nun zu Ende. Gott ist das bedingungslose Erbarmen. Schließ die Augen und gib Dich diesem Erbarmen hin. Kehre einmal dem Tag den Rücken und sauge das Licht der Nacht, das große Erbarmen in Dich hinein. Nimm das Kind und halte es an Deine Wange, Atem in Atem, Blick in Blick. Werde zärtlich. Kehre zurück! Wenn du dies begriffen hast, dann hast du den Ort verstanden, wo Du Dir Erbarmen, Vergebung, Lösung aller Rätsel und Kraft holst, den Tag zu gestalten nach den Gesetzen, die die Nacht verleiht.
Weihnachten. — Komm, bete an, das heißt, gib Dich vollkommen hin. Wirf alle Sorgen von Dir, allen Haß, alles Trennende. Werde einer der Vereinenden! Die Nacht kennt keine Trennung. Die Nacht durchbricht alle Grenzen. Über diesen Grenzen, im Jenseits, ist Er. Wo aber die Grenze überschritten wird, dort ist Deine nächste Nähe und Dein innigstes Innen. Dort gehe hin. Schließe die Augen und küsse. Das ist das heilige Gebot der Weihe-Nacht: Küsse Gott, denn Er will von Dir gekost sein! Und wer je des Kosens unsagbare Herrlichkeit empfand, der weiß, daß darinnen heilige Furcht liegt – aber keine Angst! AMEN.
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