Sonntagsbrief vom 15. Februar 1976
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Am Mittwoch, dem 11.2.1976, am Fest der Erscheinung in Lourdes, predigte ich über die ewig-gültigen Maßstäbe, nach denen sich die Haltung des katholischen Christen gegenüber außergewöhnlichen Gnadenereignissen (Erscheinungen, Wunder) seit eh und je zu richten hat.
1.) Es gab und wird immer geben im Raume der heiligen katholischen Kirche außergewöhnliche Ereignisse, durch die der Gottmensch vom Vater her in der Kraft des Heiligen Geistes und im mütterlichbräutlichen Spiegel der seligsten Jungfrau Zeichen wirkt (d.h. durch vorübergehende Außerkraftsetzung von Naturgesetzen in auffälliger Weise Seine Wahrheit und Seinen Willen bestätigt), vorübergehend die Geistes-Augen und Geistes-Ohren einer vergöttlichten Geist-Seele öffnet, die normalerweise in keimhaftem, unentfaltetem, schlafendem Zustand sich befinden, solange wir an den Leib gebunden sind, diese Organe also einmal öffnet, um eine Wahrnehmung der übersinnlichen Mächte zu gewähren, bzw. in der Seele ein Bild erschafft von Sich, von Maria oder von anderen Heiligen, um dadurch Seine und der Heiligen Gegenwart und Willen kundzutun.
2.) Auch wenn diese Erscheinungen oder Wunder zweifellos echt und gottgewirkt sind, kann und darf – von den unmittelbar Betroffenen abgesehen, denen möglicherweise ein konkreter Auftrag erteilt wird – von keinem katholischen Christen verlangt werden, daß er von diesen außergewöhnlichen Geschehnissen überzeugt ist. Niemals wird von der Kirche gegenüber solchen Dingen ein religiöser Glaube verlangt, erwartet oder auch nur empfohlen! Wer also von anderen verlangt oder ihnen mit Bekehrungseifer zusetzt, sie müßten irgendein außergewöhnliches Ereignis glauben, versündigt sich gegen den Willen Gottes, der sich vor allem und über allem in Seiner Kirche kundtut. In Seiner Kirche, sofern sie sich in ihrem eigenen Lichte darstellt, das an der unmittelbar erkennbaren, vorgegebenen, von ihr immer gelehrten Wahrheit gefunden werden kann und muß.
3.) Die Dogmen der Kirche und ihre gültig vollzogenen Geheimnisse (Sakramente) stehen an übernatürlicher Intensität, göttlicher Gegenwart und Verbindlichkeit buchstäblich himmelhoch über jeglichen Visionen, Wundern und sonstigen außergewöhnlichen Wahrnehmbarkeiten.
4.) Auch der Teufel und seine Trabanten, die Dämonen, können Visionen (Erscheinungen), Auditionen (Stimmen) und Scheinwunder wirken. Sie können die von ihnen gewirkten Erscheinungen mit der Illusion himmlischen Lichtes, wonniger Tröstung, einschmeichelnd-erhebender Atmosphäre ausstatten. Der heilige Paulus sagt, der "Satan könne auch in Gestalt eines Lichtengels auftreten". Die wahren Mystiker aller Zeiten haben das eingesehen und sich dem Urteil der Kirche und der Lehrer des geistlichen Lebens gebeugt. Ob es sich um gottgewirkte, dämonengewirkte, eingebildete oder wahre Erscheinungen handelt, ist tunlichst dem Urteil der erfahrenen Lehrer des geistlichen Lebens anheimzugeben, die die Kunst der Unterscheidung der Geister beherrschen (ein mündiger Christ – ein Begriff, mit dem man heutzutage munter und verantwortungslos zu schwadronieren pflegt – sollte eigentlich diese Kunst bis zu einem gewissen Grade beherrschen).
5.) Im Falle einer Erscheinung, die mit einem gewissen öffentlichen Anspruch kundgetan wird, stellt die offizielle Kirche fest, ob das, was in ihrem Zusammenhang zur Geltung gebracht wird, mit dem Glauben und der Sitte in Einklang gebracht werden kann. Das ist das Werk der offiziellen Kirche in dieser Sache. Damit will sie über die übernatürliche Echtheit und Gottgewirktheit nichts aussagen. Denn auch eine Erscheinung, die keine von außen feststellbaren Verstöße gegen Glauben und Sitte aufweist, kann zur Verwirrung der unmittelbar betroffenen Person von Dämonen gewirkt sein. Ob letzteres der Fall ist oder nicht, sollte ein kluger Seelenführer, ein Meister in der Unterscheidung der Geister, prüfen. – Wenn es also heißt: "Die Kirche hat diese oder jene Erscheinung bestätigt!", dann ist das immer eine irreführende Ausdrucksweise. Die Kirche hat dann nur gesagt: "Von der geoffenbarten Wahrheit und dem Sittengesetz her ist im öffentlich erkennbaren Rahmen nichts Anstößiges zu vermerken." Mehr wird von der offiziellen Kirche niemals ausgesagt.
6.) Alle Anzeichen der Echtheit sind bei den Erscheinungen gegeben, die der heiligen Bernadette in Lourdes zuteil wurden. Dennoch ist niemand gehalten, an sie zu glauben. – Was z.B. bei Bernadette absolut überzeugt, ist ihre gesunde, unbefangene Haltung, ihre tiefe Schamhaftigkeit, der Widerwille gegen Betrieb und Sensation, ihr Fernsein von jeglichem aufdringlichem Sendungsbewußtsein.
7.) Ein mündiger Katholik wird niemals den Schwerpunkt seiner religiösen Haltung in außergewöhnlichen Erscheinungen gründen. Er wird solchen Dingen gegenüber mit Vorsicht und heiliger Zurückhaltung begegnen und auch nicht darauf aus sein, dahinter zu kommen, wie es mit der Echtheit steht.
Keiner stelle unsere große Sache in ein schlechtes und verdächtiges Licht dadurch, daß er mit übernatürlichen Sensationen bei der Hand ist!
Es grüßt Euch alle von Herzen Euer Pfarrer Hans Milch.
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