Sonntagsbrief vom 29. April 1979
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Es ist immer erneut notwendig, aktuelle Fragen und politische Aspekte zu behandeln im Rahmen von Pfarrbrief und Predigt, damit bei so viel falscher Beeinflussung seitens der Massenmedien auch die geistige Kompetenz zu Worte kommt. Geistig kompetent ist die katholische Kirche als solche. Und weil sie zur Zeit als solche kaum in Erscheinung tritt, ist ihre Stellungnahme um so wichtiger dort, wo sie als solche in Erscheinung tritt. – Wie bewältigt man seine Vergangenheit? Anders ausgedrückt: wie werde ich damit fertig, daß in meiner Vergangenheit dunkle Punkte, Verbrechen, wesentliche Versäumnisse zu verzeichnen sind?
1. Ich wende mich an den, der die Belastung und Beschädigung der Personwürde, die ich mir zugefügt habe, aufhebt und die verlorene Zeit durch Sein Erbarmen aufwiegt. 2. Ich frage mich: wie konnte es kommen, daß ich mich so vergaß? Welche falschen Voraussetzungen konnten meinen Willen verformen und zu falschen Entscheidungen verleiten?
Aber ich bin nicht nur Einzelmensch, sondern zugleich Volk. Das ist durchaus präzise gesagt. Die nähere Erklärung würde den Rahmen dieser Darlegung sprengen. Hier mag die Feststellung genügen, daß die Parole der Nazis: "Du bist nichts – das Volk ist alles!" Wesen und Wahrheit auf den Kopf stellt. Es muß umgekehrt heißen: Volk wird Wirklichkeit im Einzelnen! Du bist Volk.
Im Einzelnen strömen zusammen die Leistungen, Leiden, Verbrechen aller, die durch Blut, Raum und Schicksal gebunden sind. Ich bin also nicht nur einige Jahrzehnte alt, sondern Jahrtausende. Mein Sein wurzelt in langen Geschlechtern. (Diese Vereinigung meines Seins, meiner Person mit den Jahrtausenden meines Volkes, wird unendlich erhöht und erlöst durch mein Eins-Sein mit der Kirche, dem Volke Gottes, und dadurch mit dem Volke Israel und seinem erregenden Geschick.)
Was im Namen meines Volkes geschieht, das geschieht also in meinem Namen. Darum habe ich mich auch mit den Verbrechen zu befassen, die von berufenen bzw. unberufenen Vertretern Deutschlands begangen worden sind – angeblich von den Deutschen für die Deutschen. Ich muß mich fragen, wie konnten solche Menschen zu solcher Stellung gelangen, daß man sie mit Deutschland verwechseln mußte? Wie konnten sie an die Hebel der Macht kommen, wo sie sich anmaßten, in meinem Namen zu handeln?
Wie konnte es geschehen, daß falsches Denken sich täuschen ließ von einer "Obrigkeit", die keine war, und von einem "Gehorsam", den Gottes Wille verbietet?
Steckt in meinem eigenen Denken etwas von subalterner Unterwürfigkeit? Freue ich mich über Lob und "Leutseligkeit" eines Vorgesetzten? Lache ich beflissen, wenn er geruht, witzig zu sein? Strahle ich über sein Schulterklopfen, das er mir gönnerhaft gewährt? Ist also in mir Sklavensinn verborgen?
Machthaber, die sich anmaßen, die Einzelnen zur "Gemeinschaft" zusammenzuschweißen – sei es die sozialistische Gesellschaft oder die "Volksgemeinschaft" –, sind keine Obrigkeit im Sinne der Heiligen Schrift. Die Inhaber staatlicher Gewalt besorgen dem Menschen und den von ihm gewählten Gemeinschaften, Raum, Freiheit, Luft zum Atmen und zur eigenen Entscheidung. Sie mögen es unzulänglich oder schlecht verwalten – Inhaber sind sie gottgegebenen Amtes und in Wahrheit Obrigkeit. Wer sich aber daran macht, den Einzelnen zu erfassen, um "die Menschen zu bessern bzw. die Menschheit zum Fortschreiten zu bringen" – aus Millionen "einen Willen, eine Front" zu schmieden, der tut das Gegenteil von dem, wozu staatliche Obrigkeit da ist, und er tut es aus Grundsatz, nachdrücklich und beständig. Wo dies vorliegt, herrscht ein wesentlich staatenloser Zustand. Von "Obrigkeit" kann keine Rede sein.
Der Nationalsozialismus konnte kommen, weil viele nicht erkennen wollten oder konnten, daß es keinen Fortschritt der Menschheit als solcher gibt und geben kann. Es sei denn, dieser Fortschritt ereignet sich im Geistkern des Einzelnen durch die Entscheidung seines Willens. Ist auch in mir der Wahn versteckt, "die Menschheit" im Sinne von Masse und Zahl könne geistiger, moralischer, vernünftiger, brüderlicher etc. gemacht werden? Wenn ja, dann habe auch ich meinen Anteil am Zustandekommen furchtbarer Verbrechen. Sie müssen überall dort geschehen, wo ein Volk bzw. "die Gesellschaft" zum Fortschritt formiert werden soll. Hier ist schon Mord zugange. Der physische Mord – Auschwitz, Taiga, Lubljanka – folgt notwendig daraus.
Herzlichst grüßt Sie alle Ihr Pfarrer Hans Milch.
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