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Sonntagsbrief vom 7. Mai 1982

Meine lieben Brüder und Schwestern!

 

Einige Hinweise bezüglich des achten Gebotes. – "Ich habe gelogen, habe aber niemandem damit geschadet". "Ich habe gelogen; es waren mehr so Notlügen." –

 

Das Aussprechen der Unwahrheit, sofern es bewußt geschieht, ist – abgesehen von einer einzigen Ausnahme, auf die ich unten noch zu sprechen komme – in sich Sünde. Die Sünde besteht nicht erst im Schädigen anderer Menschen. Sie besteht auch nicht erst im persönlichen Vertrauensbruch.

Sie besteht im Aussprechen der Unwahrheit selbst.

Grund: Der Mensch hat seine Sprechwerkzeuge – Mund, Zunge etc. – vom Schöpfer erhalten, um die Wahrheit und Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Sein Geist ist in der Lage, das Wesen des Seienden zu erkennen, und in der Sprache findet diese Denkfähigkeit ihren Spiegel und Ausdruck.

Die Zunge des Menschen kann Segen wirken, trösten, Kraft spenden, erleuchten, Rat geben, Weg weisen. Sie kann aber auch Unfrieden stiften, Unheil in Fülle bringen, falsche Auffassungen erzeugen und verbreiten, nähren und erhalten, Menschen in ein falsches Licht bringen, in die Irre führen, kränken, Vertrauen zerstören, den Zugang zur Wahrheit versperren. – Sie kann das Christusfeuer heiliger Leidenschaft anzünden und den Steppenbrand teuflischer Zerstörung. Sie kann vom Geiste beherrscht werden im Zeichen der Wahrheit und Liebe. Sie kann sich vom Geiste lösen und den niederen Instinkten, der bewußten oder unbewußten Rachsucht, der Rechthaberei, des falschen Stolzes, der Weigerung, Fehler einzugestehen, sich unterwerfen.

Manche haben gehört oder gelesen, man brauche zu seinen Ungunsten keine Wahrheit zu sagen. (Vor Gericht ist es straffrei, wenn ein Angeklagter seine Schuld leugnet; aber nicht vor Gott!) Aufgrund dieses massiven Irrtums meinen viele, das Leugnen eigenen Fehlverhaltens sei eine "Notlüge". O nein! Das ist noch lange keine Notlüge! Es ist in sich eine klare und blanke SÜNDE! – Ob es sich um eine schwere Sünde handelt oder nicht, hängt nicht nur ab vom Grad des Schadens oder des Vertrauensbruches, sondern von der Gewichtigkeit des Inhaltes für die angesprochene (=angelogene) Person und von der Hartnäckigkeit und Unverfrorenheit, mit der auch relativ unwichtige Inhalte verdreht, geleugnet oder entstellt werden.

Man merke sich das gut!

Jetzt will ich auf die oben angedeutete einzige Ausnahme zu sprechen kommen, in der von Notlüge gesprochen werden kann und muß: Eine Notlüge liegt nur dann vor, wenn das Aussprechen der Wahrheit sittlich verboten ist.

Es gibt eine klare Schweigepflicht, bzw. die Pflicht, eine Wahrheit zu verschweigen. Das kann der Fall sein im Zusammenhang mit berufsgebundener Geheimhaltungspflicht, mit der Schonung kranker Menschen, mit der Wahrung der öffentlichen Ehre anderer Menschen oder mit Situationen, bei denen das Aussprechen der Wahrheit mit Sicherheit Mißverständnisse und falsche Eindrücke erwecken würde. Letzteres z.B. ist der Fall, wenn die eigentliche Wahrheit nicht artikuliert werden kann und das Aussprechen eines aus dem Zusammenhang gerissenen Tatbestandes ein falsches Bild der Lage ergeben müßte.

In all diesen Fällen herrscht notwendig und unumgänglich die Pflicht des Verschweigens. Wenn das Verschweigen des Tatbestandes, der geheimgehalten werden muß, nicht anders möglich ist als durch das Aussprechen der formalen Unwahrheit, dann und nur dann liegt Notlüge vor. Notlüge ist immer Pflicht, gehört also niemals in die Beichte der Sünden.

 

Herzlichst grüßt und segnet Sie alle  Ihr priesterlicher Freund Hans Milch.

Schlüsselbegriffe ?
 
Lüge
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