Sonntagsbrief vom 6. Juni 1982
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Errichte Deine Einsamkeit wie eine uneinnehmbare Burg! Sie ist wertvoller als ein Haus aus Stein, für dessen Bau Du Dich abmühst. Deine Einsamkeit ist Dein Eigentum – kein Staat kann und darf sich ihrer bemächtigen; Diebe können nicht einbrechen. Was in ihr geschieht, geht nur Dich an und den anderen, von dem gleich die Rede sein wird.
Über diesen Deinen Bezirk hat niemand das Recht etwas zu erfahren; er ist Dein Geheimnis, dessen Enthüllung Dir kein Mensch und keine Erdenmacht abverlangen kann – Deine Eltern nicht, Dein Ehepartner nicht, Deine Freunde nicht und Deine Verwandten nicht! Gerade die Nahestehendsten werden zwar, wenn sie guten Willens sind, unendlich davon gewinnen, daß Du Deinen heiligen Raum besitzest, wo Du Du bist und Dir gehörst. Aber was drinnen vorgeht, danach nur zu fragen steht keinem zu. –
In diesem heiligen Bezirk machst Du gewaltige, tief erregende Entdeckungen – viel, viel aufregender als die Erfahrungen der Seefahrer und Kosmonauten. Eine Mondlandung ist langweilig ihnen gegenüber, Lichtjahre wie kurze Wegstrecken angesichts der Unendlichkeit der Reisen, die nach innen gehen. Du kommst zum großen Staunen darüber, daß es Dich gibt. Der Kinder erste Fragen kehren zurück. "Ich bin da!" Daß ich bin – was soll es? "Jahre schon gingen dahin, und ich habe nicht gefragt. Der Kinder Staunen erlosch zu schnell. Nun aber will ich es wissen – warum?! Wer bin ich, was bin ich?! Glimmen nicht im Tiefsten noch der Jugend große Erwartungen? Wollte ich nicht tief und stark leben – nicht so langweilig, nicht so öde 'wie gehabt', wie es sich bei den meisten darstellt? 'Ich will einmal Großes schaffen, Tiefes erfahren in Liebe und Hoffnung!' Sprach nicht so mein tiefstes Wollen? Was ist daraus geworden? In der Tat nicht viel. Wenn ich mich redlich betrachte, muß ich gestehen: Allzu seßhaft bin ich geworden in meiner Seele. Allzu 'zufrieden', allzu üblich, allzusehr 'wie die anderen'. Wie arm sind meine Hoffnungen geworden, wie fad meine Pläne und Vorfreuden! Eingefügt habe ich mich ins allgemeine Geschwätz, abgefunden mit dem Gewöhnlichen." –
Und wenn Dir so mit Staunen und innerer Scham die Augen aufgegangen sind zum Fragen und die Ohren zum Hören – dann laß IHN kommen! Er-innere Dich der Ereignisse, die Du erlebt mit anderen, 'weil es so Brauch ist', ohne zu ahnen, daß DIR mit ihnen Unabsehbares widerfuhr und unaussprechliche Herrlichkeit und Macht und Würde und Bestätigung, Hineinnahme in der Gottheit heiligstes INNEN!
Daß es wirklich wahr ist, was Du gehorsam und üblicherweise zu 'glauben' wähnst – das werde Dir nun offenbar! Vor Deinem geistigen Auge erhebt Sich das ewige DU! ER tut Sich Dir kund im Geheimnis der Stille, in der Burg Deiner Einsamkeit, die eine Stätte der Machtausübung ist und zugleich innigst geheime Brautkammer, wo der heilig-allmächtige Freund Deine Seele besucht!
Und dann laß IHN zu Dir reden. "Nimm und lies!", hörte der heilige Augustinus die geheimnisvolle Stimme, die ihn drängte, den Liebesbrief zu öffnen, den ER, der Unendliche, DIR schreibt, worin ER zu DIR spricht in jedem Augenblick, da Du ihn aufschlägst! Lies die Mysterienworte des heiligen Johannes! Dring ein in Seine Begegnungen mit Sündern und scheinbar Verlorenen! Geselle Dich zu den Wundern, die Er wirkt. Werde ein Eingeweihter!
Und dann sage es Dir immer wieder, immer wieder, immer wieder, daß ER in Dein Innerstes und in Deinen Leib Seinen Geist haucht – Dir zur Verfügung, Deinem Wink zu Diensten, Deiner Entscheidung anheimgegeben! Daß dieser Gottesgeist, der selbst GOTT ist, als allmächtige Kraft, als grenzenloses Erbarmen, als Leben und Liebe Sich in und durch Deine Schwachheit vollendet, daß Er alles gut macht, daß Er die mit himmlischen Strahlen leuchtende Reinschrift schreibt auf den krummen Linien Deiner Versager und Erbärmlichkeiten, daß ein neuer, demütiger Stolz Dir gewährt ist, eine neue Selbstachtung, ein neu gewecktes, aus dem Schutt des Unkrautes herausgelöstes ICH Dir Recht gibt zu einem Machtbewußtsein, zum Wissen, geliebt und verstanden zu werden, ewig zu leben und hier mit entbundenen Energien Unabsehbares zupackend zu meistern und zu leisten – all dies, von dem die anderen nichts ahnen können!
Dies tiefe Geistglück wünscht Dir H. Milch!
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