Sonntagsbrief vom 9. Januar 1983
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Jeden Menschen habe ich zu lieben – selbstverständlich, innig, mit heiligem Nachdruck des Geistes und des Willens. Ich habe keines Richteramtes zu walten und die Menschen zu grüßen bzw. zu behandeln gemäß der von mir eingeschätzten "Würdigkeit" oder "Unwürdigkeit". Solche Ent-Scheidung und Unter-Scheidung steht mir nicht zu.
Mit flammender Unbedingtheit bin ich gehalten, jedem Menschen nachdrücklich das für ihn höchste Glück zu wollen und betend bzw. handelnd nach dem Maße meiner Möglichkeit das Meine dazu zu tun. In der Tiefe unserer Seele sind wir zu allem Bösen fähig, jeder – Du und ich. –
Etwas anderes ist die realistische Charaktererkenntnis, durch welche ich kraft meiner Erfahrungen weiß, welchen Grad an Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit ich einem Menschen beimessen kann. Schließlich muß ich mich im Leben zurechtfinden, Freundschaften eingehen oder Distance halten, Untergebene einstellen, abweisen oder entlassen. Das hat mit einem Urteil über die Tiefeneinstellung seines Willens gar nichts zu tun. Noch der charakterlich Belastetste kann im Auge des Herrn einen höheren Grad der Heiligkeit besitzen als ich. Ein Richter, der pflichtgemäß im Interesse des Allgemeinwohls ein Urteil fällt, ein Chef, der einen Untergebenen wegen Unfähigkeit bzw. Verfehlungen entlassen muß – sie fällen kein Urteil über den Menschen als solchen, sondern seine charakterliche Brauchbarkeit bewerten sie notwendigerweise angesichts konkreter Aufgaben und Zielsetzungen.
Freundschaft im Herzen hegen in brüderlicher Vereinigung und Hingabe: Mit Jedem!
Siehe den Richter, der nach der notwendigen Verhängung des Todesurteils den Mörder als seinen Freund und Bruder umarmt.
Freundschaft pflegen ist etwas anderes: das setzt voraus, daß aufgrund charakterlicher Vorgegebenheit einer dem anderen vertrauen kann und zudem eine gewisse Harmonie, ein geistiger Gleichklang, beide einander verstehen läßt.
Wer mich nicht grüßen will, dem laufe ich nicht nach. Ich werde mich nicht erniedrigen und meine Selbstachtung wahren – aber Freundschaft im Herzen hegen, das ist mir unter allen Umständen aufgetragen.
Die allumfassende Liebe macht nicht blind gegenüber Charakterfehlern; aber sie stößt durch die charakterlich bedingte Wand hindurch in die gottgedachte Seinstiefe und entbrennt für deren heilige Entfaltung im ewigen Heil. –
Daraus entnehmen wir, Du und ich, daß es mit unserer wahren Nächstenliebe katastrophal bestellt ist.
Herzlichst grüßt Dich Dein priesterlicher Freund H. Milch.
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