Startseite | Menü einblenden | Übersicht: Sonntagsbriefe | 05.06.77 | 11.09.77 |
Meine lieben Brüder und Schwestern!
Man sagt: "Liebe macht blind." Ein im Grunde falsches Wort. Die erotische Liebe öffnet den inneren Blick für das wahre Wesen des Geliebten. Sehr oft werden verwechselt das einmalige Wesen des Menschen, seine Ich-Tiefe, und sein Charakter. Charakter ist die Summe ererbter und durch Erziehung, Umwelt, Gewöhnung entstandener Neigungen und Eigenschaften des Gefühls, hirnbedingter Begabungen oder Mangelerscheinungen. Der Charakter ist uns gegeben als Chance und Gefahr, als Last und Hilfe, als Erschwerung und Erleichterung. Er ist uns aufgegeben wie ein Acker mit Weizen und Unkraut, auf daß wir hegen und pflegen, pflanzen und ziehen, ausreißen und jäten. Uns, das heißt also Dir und mir, dem jeweils Einzelnen, dem Ich. Mir ist der Charakter auferlegt, aber ich bin nicht Charakter. Das, was ich bin, ist der Gedanke Gottes von mir, einmalig, unwiederholbar, unverwechselbar und unersetzbar. Selbstverständlich ist er völlig unabhängig von der Zufallszusammensetzung der Chromosome (Träger der Erbanlagen) und kein Mischprodukt aus Oma und Ur-Opa. Was ich habe an Eigenschaften, ist weithin Vererbung; was ich bin, ist unmittelbar Gottes Gedanke. Bei den meisten Menschen ist dieser Gottesgedanke = WESEN verschüttet und kaum zu erkennen. Nur einem Begegnenden ist es gegeben, in heiligen Schauern zu erahnen, daß unaussprechlich Herrliches, Gottes Gedanke = Ebenbild, in der Tiefe leuchtet: dem Liebenden, und zwar dem im Sinne der Geschlechterliebe Ergriffenen! Die berauschende Entdeckung, das Gewahrwerden einer unaussprechlichen Lichthaftigkeit, des Wunders, das der Geliebte ist, soll der Start einer Forschungsreise sein. Diese Forschungsreise des Geistes ist das Stadium der "anbetenden Liebe": gerade weil der Geliebte Eingang gefunden hat im Innersten, weil Geistesaugen und Geistesohren aufgegangen sind, ist die Einsamkeit zum Glück, zum erhebenden Geschenk geworden. Liebende können allein sein. Aus Anblick und Gespräch entfaltet sich vor dem entzückt betrachtenden und lauschenden Gemüt Wert um Wert, Licht um Licht des Geliebten. Und in der Einsamkeit wird dies alles erwogen. Meditation und Kontemplation – "bewahren, im Herzen bewegen, anschauen, sich dienend preisgeben" – erfüllen das religiöse Leben wie das erotische.
Erst aus dieser Unternehmung des Geistes entspringt nach und nach die körperliche An-Näherung, bis der Augenblick fällig ist, sich zum Genuß der vollkommenen Einung zu entschließen. Dieser Entschluß ist eigentlich die Heirat.
Das sind sehr unmoderne Gedanken, aber um so notwendigere. In Andeutung kann dies nur aufgezeigt werden in diesem Rahmen. Es weitet sich nach allen Seiten zu unabsehbaren Erkenntnissen von Alltag und Liebe. Tag und Nacht, allen Himmeln und Höllen ehelicher Möglichkeiten und Aufgaben.
Jedenfalls wird nur der des Ungewohnten inne werden, welcher nicht der Erniedrigung verfallen ist, zeitgemäß sein zu wollen. Chesterton sagte einmal: "Gott bewahre uns vor der Selbstentwürdigung, Kinder unserer Zeit zu sein!"
Wer wesentlich werden und der Zeit, dieser von Chaos und Krankheit zerwühlten Zeit, heilend helfen will, muß ein Unzeitgemäßer werden. Davon gibt es logischerweise keine Dispens!
Es grüßt Euch alle von Herzen Euer Pfarrer Hans Milch.