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Niederschrift der Predigt von Pfarrer Hans Milch
Vorabendmesse zum 1. Advent 1984
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern,

 

am Vorabend des spes-unica-Sonntages laßt uns ein wenig die Lage der Kirche, die Lage des Gottmenschentums auf Erden im Augenblick, in diesem düsteren Augenblick ins Auge fassen und darüber ein wenig meditieren. Sehen Sie, es ist ein altes Gesetz: In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Psychopathen. Wir haben es mit sehr viel Krankheitserscheinungen zu tun. Und es wäre ja ein Wunder, wenn Satan haltmachen würde am Zaun, wo die lagern und die zu lagern beginnen, die den alten, ewigen Glauben bewahren, den reinen Glauben festhalten wollen, die hl. Messe aller Zeiten bejahen. Wenn dort der Satan haltmachen würde, wäre das schön. Aber er macht nicht halt. Dazu ist er ja auch viel zu genial. Er wuchert und wirkt in unseren Reihen eminent.

Und da lassen Sie mich mal so einige Pünktchen nennen, die unsere Reihen belasten. Vieles ist nicht zu ändern, vieles ist gegeben aus der Not der Lage, weshalb wir ganz besonders beten müssen für die Verantwortlichen in den Reihen der Treuen. Sie leisten unsäglich viel, opfern sich auf, bedrohen ihre Gesundheit. Ich denke an die jungen Priester, die übermäßige Verantwortung tragen und die über das Maß ihrer Reife hinaus mit Verantwortung und Macht behaftet sind. Wir müssen sehr für sie beten.

Aber es ist auch jener Trick gelungen – Satan muß es ja wirklich mit äußerster Genialität begonnen haben, und die Genialität Satans ist immer wieder zu bewundern. Es war in der Seelsorge der vergangenen Jahrhunderten sehr vieles im argen – gar keine Frage. Die gottgewollte und notwendige, gerade für die Seelsorge so ungeheuer notwendige Unterscheidung zwischen "objektiv" und "subjektiv" wurde außer acht gelassen. Sehen Sie, es gibt Menschen, gerade auch in den Reihen der Treuen, die sagen, "der Pfarrer Milch ist doch irgendwie schizophren. Auf der einen Seite ist er so radikal, auf der anderen Seite ist er so liberal." Die[se] Leute verstehen gar nichts. Die sollen mal die Evangelien lesen. Das Beispiel des Herrn ist ja maßgebend. Auch Christus ist auf der einen Seite ungeheuer radikal, hart, auf der anderen Seite von einer wahren, seelsorglichen, einfühlenden Liberalität. Nun wenn man heute "liberal" hört, dann kriegt man gleich einen Schauer und denkt: "O weh, Satan klopft an." Nun, alles gegen den Liberalismus – alles, restlos. Der ist freilich des Satans. Damit haben wir nichts zu tun. Aber gegen wahre, christliche Liberalität – nichts, gar nichts. Denn die stammt von Christus und von der Praxis des Gottmenschen. Das ist jene Liberalität, die darin besteht, den Menschen dort abzuholen, wo er steht, und ihm nur das zuzumuten, was er im Augenblick begreifen kann.

Das bezieht sich vor allem auf die Moral. Christus hat ganz und gar nicht von den Jüngern von Anfang an das ganze Ausmaß der notwendigen moralischen Forderungen abverlangt. Er hat das übrigens allgemein gültige Erziehungsprinzip angewandt, welches da heißt: Alles sehen, weniges mahnen, vieles übergehen. Das ist ein uraltes Erziehungsprinzip. Das heißt auf gut deutsch "Omnia videre, pauca monere, multa dissimulare"[, wenn man es] übersetzt. Den Menschen dort abholen, wo er steht: Man betrachte eben nur, wie Christus umging mit Zachäus, wie Er umging mit Maria Magdalena, mit Levi, Matthäus, mit der Frau von Sichar am Jakobsbrunnen. Wer das sich nicht einprägt, wer das nicht auf sich wirken läßt, der kriegt das Antlitz Christi niemals vor sein geistiges Auge. Das ist ganz wichtig. Christus hat diese Menschen angenommen, wo sie standen. Daß dann in ihnen eine Revolution vorging, ergab sich von selbst. Erst die Erkenntnis der Wahrheit, das Ergriffensein, das Begeistertsein, das Staunen über das Erbarmen des Geliebten, Ewigen, Gewaltigen, dieses von heiliger Furcht durchdrungene Staunen, dieses Gepacktsein, und daraus folgt dann von selbst die Bemühung um die Moral. Und das muß nach und nach entfaltet, deutlich, einleuchtend gemacht werden. –

"Liberal" deshalb, weil es einen Freiheitsraum, einen Atemraum dem Menschen gewährt, damit er erst einmal Christus atmet, Christus versteht, erlebt, erfährt, hört, geistig erschaut. Und dann wird ihm nach und nach das einleuchtend, was er überhaupt nur durch Einwirkung der göttlichen Gnade erwirken kann. Es hat mir einmal ein Pfarrer folgendes gesagt – da war ich noch Student, Werksstudent, und wir waren eingeladen bei diesem "gescheiten" Pastor. Er sagte folgendes: "Ja wissen Sie, das mache ich so: Wenn jemand zu mir kommt und will konvertieren, da les ich dem erstmal die ganze Litanei der Auflagen vor, die ihn erwarten. Da sag ich dem mal, was auf ihn zukommt, was er dann alles muß, was er nicht darf und was er darf. Sollen Sie mal sehen, wie schnell die wieder abhauen." – Nun, kein zoologischer Ausdruck ist zu hart, um die Dummheit dieses Geistlichen, diese geradezu verbrecherische Dummheit dieses Geistlichen zu kennzeichnen. Wenn jemand kommt und will in die Kirche eintreten, selbstverständlich werde ich dann nicht ihn umarmen und sagen, "wie schön, daß du da bist". Das hab ich ja schon oft gesagt, von mir erzählt. Als ich katholisch werden wollte, war's mir geradezu eine Wonne, außerordentlich kühl behandelt zu werden. Ich wollte erleben, daß mich die Kirche nicht braucht. Wenn ich da mit offenen Armen und unter Jubel – "Schon wieder eine Seele gerettet" – empfangen worden wäre, da wäre ich außerordentlich mißtrauisch geworden. Ich wär zwar nicht von meinem Plan abgekommen, aber es wäre mir unbehaglich zumute gewesen. Ich will gar nicht gebraucht werden. Ich will die Kirche, die mich nicht braucht. Ich brauche den, der mich nicht braucht. Das muß ich erfahren; ich habe es Gott sei Dank erfahren – selbstverständlich nicht wie die Heilsarmee oder wie die Zeugen Jehovas in Jubel ausbrechen, wenn sie da jetzt jemanden neu eintragen können in ihre Mitgliederliste. Das haben wir gar nicht nötig. Das wäre vollkommen falsch. Wir müssen unsere Souveränität zeigen.

Aber andererseits ist es unverantwortlich und objektiv [gesehen] kriminell, den Menschen von vornherein zu sagen, was sie erst dann verstehen werden, wenn sie die ganze Fülle begriffen haben. Ich kann doch nicht gleich damit ankommen. Genauso töricht, so unsagbar töricht, wenn man in einigen Meßzentren (Unsere Gemeinde hier ist ja Gold. Der Erzbischof ist jedesmal entzückt, wenn er unsere Gemeinde sieht, weil ein außergewöhnlich hoher Prozentsatz von normalen Menschen sich hier befindet im Vergleich zu anderen Meßzentren.), wenn da, sagen wir einmal, junge Mädchen in aufkeimendem Interesse die tridentinische Messe besuchen wollen und kommen nun in Hosen, da werden die dann von einigen "frommen" Leuten vor der Kirche dermaßen fertiggemacht, zur Minna gemacht, daß sie nie mehr kommen. Das gehört etwa zur gleichen "intelligenten" Behandlung – unsagbar töricht. Nie mit der Moral anfangen! Das ist die Umkehrung der Werte. Es ist unkatholisch, mit der Moral zu beginnen. Es gibt Leute, die meinen, man muß aus den Leuten erst einmal jemanden machen, der anständig ist, erst einmal Moral beibringen, und dann kann er auch schließlich katholisch werden. Es ist natürlich haargenau umgekehrt, haargenau und absolut und notwendigsterweise aus dem innersten gottmenschlichen Gesetz heraus umgekehrt.

Die Leute hängen sich ja gerne an Kleinigkeiten auf. Das war so – [hervorgerufen durch] die Genialität Satans. Jahrhundertelang war also die Seelsorge – von Ausnahmen, von starken Ausnahmen abgesehen, zweifellos – geprägt von Engstirnigkeit und Pharisäismus, Moralismus. Und in einer katholischen Gemeinde zu leben war jahrhundertelang ganz und gar keine Quelle freudigen Erlösungsbewußtseins. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Die Menschen waren geduckt und standen unter der Knute des allherrschenden Herrn Pastor – von Ausnahmen abgesehen. Ich könnte Ihnen Bände schreiben von Dingen, die ich weiß und die bis in die jüngste Vergangenheit hineinreichen. – Nun wähnten viele 1962: Hah, endlich kommt der Geist des Christus, der wahre gottmenschliche Geist in die Kirche hinein. Auf dem Vehikel dieser Illusion ritt frisch, fröhlich Satan in den Innenraum der Kirche und zerstörte die Quelle der Erlösung, die Inhalte des Glaubens.

Diejenigen, die das merkten, zogen aus dem von Satan besetzten Innenraum der Kirche aus, um die heilige Messe aller Zeiten zu haben und die heilige Tradition des Gottmenschentums zu wahren, nahmen aber [alles Irrige früherer Zeiten mit, weil sie] weithin verwirrt, dumm gehalten, ununterrichtet, wie sie waren, weil man eben meinte, es genügt der Katechismusunterricht und nachher halt reicht es aus, wenn so ein paar gefühlsselige Predigten gehalten werden oder ein paar starke Moralpauken; das reicht dann aus fürs gläubige Volk. Ach wie oft habe ich das gehört: "Na lassen Sie doch die einfachen Leute. Lassen Sie doch die Leutchen glauben all diese Sachen mit den Engelein, daß da oben der Himmel ist, räumlich oben. Lassen Sie doch glauben, daß die kleinen Kinder Engelchen werden" usw., usw., usw., "und bringen Sie ja nicht Dreifaltigkeit und besonders tiefe Dinge in die Predigt.". "Das ist gar nicht gut", sagte mir ein Chef in junger Kaplanszeit, "es ist gar nicht gut, daß die Leute viel wissen. Das macht sie nur hochmütig" usw., usw. Also sie waren ungebildet, uneingeweiht in die Geheimnisse, denn nach dem Schulunterricht beginnt ja erst die eigentliche Einweihung in die Geheimnisse. Der Katechismus- und der Kommunionunterricht sind ja nur die ersten Schubser. – Nun glaubten die Menschen sie müßten halt, um den Glauben zu retten, auch alles Schiefe, Falsche, Engstirnige ...<<<Kassettenwechsel>>>... Tradition und Herkömmlichkeit. Das ist das Herkömmliche. Und das ist sehr oft muffig, eng, falsch, antichristlich, mißverstanden, mißverstandenes Christentum. Es gibt ja echte Tradition. Darum sammeln sich in unseren Reihen der Treue in ganz besonderer Weise die Elemente des Engstirnigen, Muffigen, die Erscheinungssucht, die Wundersucht, das Sich-Festlegen auf das Unwichtigere, die falsche Schwerpunktsetzung. Das alles findet man gerade in unseren Reihen eminent. Und das ist eine Hypothek, die schwer lastet. Das müssen wir wissen. Das ist ein Stoff für unser Gebet, damit der wahre Geist Christi hereinkommt mit Seiner ganzen Tiefe, Seiner gottmenschlichen Tiefe.

Und am schlimmsten sind die demokratisch Angehauchten, die so bißchen überdurchschnittliches wissen von den Geheimnissen – mehr als die meisten, aber nicht genug. Und die haben dann Ansichten. Es gibt viel zuviel Ansichten. Heute hat ohnehin jeder einen Pack von Meinungen. Das ist eine Krankheitserscheinung ersten Ranges. Die Welt wimmelt von Ansichten – leider auch in unseren Reihen. Wir dürften doch eigentlich gar nicht so demokratiebeflissen sein und in der Demokratie keinen Wert in sich sehen, sondern wir müßten auf Rechtsstaatlichkeit aus sein, auf Rechtsstaatlichkeit, gegen den Totalitarismus uns wappnen. Und eine gesunde Demokratie ist in praktischen Situationen durchaus nicht zu entbehren – aber Demokratie als eine Weltanschauung hochzustilisieren ist vom Satan. Alles kommt von der Basis her, alles muß von unten her kommen, und von der Basis kommt allein die Kompetenz, die Rechtmäßigkeit, die Gültigkeit: das ist halt des Teufels. Seit die Leute Ansichten haben, ist es schlimm. Es wäre für viele besser, sie würden hart arbeiten, in tiefer Bescheidenheit, dann wären sie gut zu ertragen. Aber seit die meisten Ansichten haben, ist es furchtbar. Immer wieder werde ich mit Ansichten konfrontiert. Das sind zusätzliche und fürchterlich unnötige Belästigungen, die Leute, die mit Ansichten kommen. Sie sollen fragen. Das ist richtig: sich Gedanken machen und fragen. "Wie kommen Sie darauf? Erklären Sie das? Ich habe das nicht genau verstanden. Erklären Sie es bitte noch genauer." So ist es richtig, angemessen. Aber mit eigenen Ansichten aufzuwarten, das ist eine verbreitete Pathologie in unseren Reihen. Und dagegen muß auch unser Gebet einsetzen.

Die Leute haben theologische Ansichten. Man soll's nicht für möglich halten. Sie haben keine Ahnung von der Theologie der Väter, von der jahrtausendealten Entfaltung des Gottmenschentums, von den rechten Schwerpunkten nicht den blauen Dunst eines blassen Schimmers – haben aber theologische Standpunkte. Das ist furchtbar. Das ist nicht etwa Interesse, notwendiges, staunendes Interesse, wahre Mündigkeit, [sondern] das ist das Gegenteil von Mündigkeit: das ist Halbgebildetheit. Der wahrhaft Mündige ist kindhaft. Er staunt und fragt und hört nicht mit seiner halbgebastelten Theologie kritisch zu, ob der Pfarrer Milch auch keine Häresien von der Kanzel verbreitet. Es gibt deren [einige]. Das ist eine Groteske, über die ich mich immer wieder amüsiere, aber es ist manchmal eine recht lästige Groteske – eine verbreitete Groteske. Deshalb habe ich mal was gegen die Stehkonvente gesagt in einem Rundbrief der spes unica. Einige haben sich darüber geärgert und meinten, man kann doch nicht stur aus der Kirche rausgehen und sich nur kurz grüßen und mit verbissenem Gesicht nach Hause gehen. Das war auch gar nicht gemeint. Selbstverständlich soll man sich freundlich begrüßen und ein paar Worte wechseln. Dagegen ist ja gar nichts zu sagen. Aber diese endlosen Stehkonvente, in denen die aus dem Nähkörbchen aller Meßzentren und der Priesterbruderschaft und aus dem Nähkörbchen dieser oder jener Patres da die letzten Sensatiönchen ausgetratscht und vor allem wieder Ansichten, auch theologische Ansichten zum besten gegeben werden, diese endlosen Stehkonvente sind eine Höllenpest. Gegen die habe ich etwas geschrieben. –

Die Leute sollen doch fragen, fragen, fragen, aus innerstem Interesse fragen. Es gibt natürlich Leute, die fragen, um sich in ihrer gemütlichen, geistigen Behaglichkeit absichern zu können. "Der Pfarrer Milch hat das gesagt. Herr Pater, stimmt das eigentlich?" Und der Pater denkt: "Ach da kommt so ein frommes, liebes Seelchen. Das braucht nicht viel zu wissen. Aber das wollen wir mal schön trösten." Und dann kriegt das fromme Seelchen einen Schnuller, und der Schnuller heißt: "Natürlich hat der Pfarrer Milch das nicht richtig gesagt. Glauben Sie nur weiter die Sache so, wie sie bisher geglaubt haben." Ich denke da zum Beispiel an die Sache mit der "Braut des Hl. Geistes" und andere Dinge. – Sehen Sie, das sind alles so dicke Hypotheken, die auf uns lasten. Fragen ist das Kennzeichen des Mündigen nicht Ansichten äußern oder gar belehren wollen.

Ich erlebe immer wieder, daß man belehrt wird. Das ist furchtbar lästig. Manchmal überlegt man sich, "soll ich's gleich in den Papierkorb werfen, oder soll ich mir wirklich die Zeit damit vergeuden zu antworten". Das ist dann immer auch eine Gewissensfrage, die einen dann noch zusätzlich peinigt und die Nerven unnötig raubt. – Und dann halt diese mangelnde Klarheit in der Beurteilung unserer Lage. Da schrieb mir doch jetzt wieder jemand: "Ja weißt Du, mein lieber Hans, Du willst gleich im Sturm und mit einem Schlag das Bollwerk der katholischen Kirche erobern. Denk doch an die Zeit des sechzehnten Jahrhunderts, die Krise im Zeichen des Protestantismus, da wurde doch auch Stück für Stück nacheinander zurückgewonnen." Also dümmer geht's wirklich nicht.

Ich denke nicht im Traum daran, das Bollwerk mit einem Schlag zu erobern. Ich denke überhaupt nicht daran zu erobern – ich bin doch nicht geisteskrank –, sondern um was es geht, heißt: Wir bilden eine Phalanx der Hoffnung und des Gebetes und des Bekenntnisses; und aus unserer Christusvereinigung im Zeichen der Hoffnung gegen alle Hoffnung entsteht dann kraft des Hl. Geistes die Erfüllung. Die allerdings, die wird mit einem Schlage und muß mit einem Schlage geschehen. Denn das Katholische läßt sich nicht nach und nach aufbauen. Es tun manche so, als könnte man so ein Stück Katholisches auf's andere setzen, und schließlich, wenn das ganze Gebäude fertig ist, ist die Wende vollendet. Das ist ein Denkfehler. Wer solches behauptet, versteht nichts vom Katholischen. Das Katholische ist nichts, was zusammengesetzt werden könnte, sondern das Katholische ist in sich der Begriff der Unteilbarkeit, die Ganzheit als solche, unteilbar. "Teilwahrheit" ist ein innerer Widerspruch. Die "Fülle der Wahrheit" ist ein Pleonasmus, d.h. eine Begriffsverdoppelung, die im Eigenschaftswort schon enthält, was im Hauptwort gesagt ist. Das Wesen der Wahrheit ist die Fülle. Entweder die Wahrheit oder die Fülle: das geht nicht. Teilwahrheit ist dasselbe wie Irrtum. So könnte man also sich schließlich die ganze katholische Wahrheit aus lauter Irrtümern, Teilwahrheiten zusammensetzen, die man dann schön aufeinanderbaut. Das ist ein totaler Unsinn. Die Wende besteht in der Statuierung, der offiziellen Statuierung des Katholischen als solchen. Aber, was man hört, sind immer Teilwahrheiten. Da sagt der mal was Richtiges, und da sagt dort der Papst mal moralisch was Richtiges, was auch einer vom Arbeitersamariterbund sagen könnte, und da sagt dieser mal was Wahres, da sagt der andere Bischof jenes Wahre. Und überall freuen sich dann die Leute und sagen: "Haha, Lichtblicke." Gar keine Lichtblicke. Das sind alles Teile und damit vollkommen unbrauchbar. Es bedarf der Statuierung des Ganzen.

Es wird so geschehen, daß ein Papst, ein Papst [die Wende vollziehen wird.] Es ist ja nicht völlig ausgeschlossen, daß unter der Einwirkung des Hl. Geistes aus einem Reisepontifex und aus einem, der das Bad der Menge liebt und auf diese Weise sein Papsttum genießt (Von Leo X. wird ja das Wort nachgesagt: "Der Herr hat mir das Papsttum gegeben. Ich möchte es genießen." – Jeder genieße es auf seine Weise. – ), also wenn wirklich unter dem Einfluß des Hl. Geistes ein heiligmäßiger Papst entstehe, entstehen würde, daß also aus dem dahertendelnden von Fall zu Fall, und hie und da hinklecksenden, sein Amt total vernachlässigenden Pontifex einer wird, der sich aufrichtet und drei Sätze sagt. Diese drei Sätze heißen: "Wer behauptet, die katholische Kirche sei eine Modellgemeinschaft für zwischenmenschliches Verhalten nach dem Beispiel des Jesus von Nazareth, um einen Beitrag für den allgemeinen Fortschritt der Menschheit zu leisten und gemeinsam mit anderen humanen Gruppen auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen, der ist im Banne, der ist ausgeschlossen." Wenn dieser Satz gesagt wird, dann ist auch das ganze Konzil hinfällig und dann ist das das Datum der Wende. Damit sind auch alle sogenannten Neuerungen automatisch hinfällig, weil die sich alle aus diesem so verurteilten Satz ableiten. Oder es muß positiv gesagt werden. Es kann auch in positiver Form gesagt werden. Es gibt die negative Form der Dogmen, es gibt die positive Form der Dogmen. Bei den Konzilien ist meistens die negative Form, wie ich sie eben ausgedrückt habe, bei Papstdogmen wird meistens die positive Form gewählt. Das ist egal. –

Es ist also ein einziges Datum. Und wenn wir nicht – Priesterbruderschaft, actio spes unica, katholische Jugendbewegung – wenn wir nicht unser ganzes Wollen, Trachten, Beten, Hoffen mit heiliger Unbedingtheit auf dieses eine Datum richten, es herbeibeschwören, herbeisehnen und dadurch einen geschlossenen Magnetismus bilden, der dieses Datum beschleunigt, dann verzetteln wir uns und werden schließlich nach und nach aufgefressen von Illusionen, die sich in entsetzlicher Weise breitmachen, von dem Wahn, die Wende würde sich so sukzessive, so stückweise ereignen, so nacheinander. Das ist falsch, logisch falsch, unlogisch, unkatholisch, unvollziehbar. Die Wende ist ein einziges Datum.

Nach diesem Datum, dann setzen freilich die Stufen der Verwirklichung ein. Außerdem ist der Vergleich mit dem sechzehnten Jahrhundert völlig unzulässig. Man kann die Sache mit dem[n] Vergleich mit dem Arianismus, mit dieser Zeit damals machen, weil damals auch der Innenraum der Kirche als solcher total verdunkelt und vernebelt war. Da gab's einen häretischen Papst; da gab's die Masse der häretischen Bischöfe; und diejenigen, die dem wahren katholischen Glauben die Treue gehalten haben, waren außerhalb der offiziellen Gebäude. Aber diesmals ist es noch wesentlich schlimmer als beim Arianismus – aber total anders als beim Protestantismus. Denn damals war ja die Kirche zwar von Laumännern geführt – gewiß –, aber sie war in ihrem Erscheinungsbild keineswegs im Widerspruch zu ihrer Lehre. Die Bischöfe gingen auf die Jagd, nahmen ihre Mätressen, es war moralisch unter aller Kritik. Das stimmt. Aber die wahre Lehre wurde vertreten. Man konnte an der katholischen Kirche mit gutem Willen genau ablesen, was die Wahrheit ist. Es ging also darum, daß die katholische Kirche sich damals aufragte, um nach außen zu missionieren, um die Entlaufenen wieder zurückzuholen.

Diesmal ist es ja völlig umgekehrt. Es ist ja ganz anders. Diesmal ist auf seiten der katholischen Kirche der offizielle Raum der Kirche besetzt, verfälscht, entstellt, so daß die Menschen absolut daran gehindert werden, an der Offizialität der Kirche, im offiziellen Gebaren der Kirche das Katholische zu erkennen. Das ist völlig unmöglich. Die Kirche ist besetzt. Also muß der offizielle Raum der Kirche wieder hergestellt werden. Und das kann nur geschehen durch ein einziges Wort, durch eine Definition und Deklaration eines Obersten Hirten, des jeweils Obersten Hirten. Es ist auch nicht auszuschließen, daß es dieser Papst ist, daß er plötzlich zu sich kommt und sich restlos wandelt. Das ist nie auszuschließen. Man darf dem Hl. Geist nicht verbieten das zu wirken, was nach Menschenmaß unmöglich ist, aber größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es ein Nachfolger sein wird. Aber wir müssen beten, daß es möglichst bald geschieht. Dann wird die katholische Kirche zahlenmäßig ungeheuer zusammenschrumpfen, aber es wird wieder ein fruchtbarer Kern sein, von dem aus eine neue, dann freilich außerordentlich erfolgreiche Bewegung, Rückgewinnung, Missionierung stattfinden wird. Es wird dann die große Heimkehr der Orthodoxie erfolgen, und es wird ein neues, höheres Mittelalter, ein neuer Ordo sich ereignen. Das wird kommen. Und daß das Datum des Anfangs, das zunächst einmal eine katastrophale Schrumpfsituation offenbaren wird, daß dieses Datum möglichst bald komme, darauf muß der ganze gespannte Eifer der Katholiken gerichtet sein.

Stattdessen meinen die einen, "na das geschieht so schrittweise; wir müssen mit den Bischöfen zusammenarbeiten" – ich möchte wissen, mit was – die anderen sagen, "es muß zuerst eine Katastrophe kommen, damit die Menschen zur Vernunft gelangen". Ich möchte wissen, wer zur Vernunft kommen soll auf dem allgemeinen Friedhof, der nach der H-Bombe oder nach der Atombombe übrig bleibt, welche Leichen dann zur Vernunft kommen sollen. Ich möchte das mal wissen. – Wir müssen innigst beten, daß die fälligen Katastrophen von uns fernbleiben, und nicht den mangelnden Glauben an die Wende, die Hoffnung gegen alle Hoffnung ersetzen durch so ein paar sensationelle Zwischenvorstellungen von Katastrophe und drittem Weltkrieg und was weiß ich noch alles. Daß das fällig ist, weiß ich auch. Aber Prophetien bedeuten keine Unentrinnbarkeiten, siehe Jonas in Ninive. Wir müssen alles daransetzen, unser ganzes Beten, daß die Katastrophe von uns ferngehalten wird. Und nur, wenn sie von uns ferngehalten wird, da wird in Europa – und Europa ist noch das geistige Zentrum –, da müssen wir eben [in] Europa die Erneuerungsbewegung seitens der Priesterbruderschaft und der actio spes unica und der katholischen Jugendbewegung ins Hochrelief treiben, jene Erneuerung, die bereitsteht für den Moment der Wende, damit, wenn die Stunde der Wende schlägt, genügend da sind, die dann am Zuge sind. Diese geistige Vorbereitung ist nicht schon ein Stück Wende, sondern die Vorbereitung der Wende. Die muß geschwerpunktet sein auf Europa. Das ist von eminenter Wichtigkeit. Und man sollte seine finanziellen und seine geistigen Kräfte nicht verzetteln, um irgendwo in fernsten Gegenden etwas aufzurichten, solange nicht Europa gesättigt ist von wirklichen Geistkräften, die sich vorbereiten, um für die Stunde X bereitzustehen. – Das sind so Überlegungen. Deshalb beklage ich ungemein die Verzettelung, diese Aufspaltung in verschiedene Sichten und Ansichten, statt daß alle sich sammeln, ihre Hoffnung in den Brennpunkt hineinsammeln auf dieses eine, unteilbare Datum der Wende. Wenn das geschieht, worauf ich immer wieder hinzuarbeiten suche, dann wird sich auch die Wende entsprechend beschleunigen. Stattdessen blüht der Luxus der Ansichten. —

Das war das, was ich so über die allgemeine Lage sagen wollte am Vorabend des spes-unica-Sonntages. AMEN.