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Niederschrift der Predigt von Pfarrer Hans Milch
20. Sonntag nach Pfingsten 1985
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern,

 

ehe wir an den Anfang des Gebetes kommen, den "Introitus", eine wichtige Vorsetzung, eine unabdingbare, unverzichtbare Voraussetzung: Zeit!

Das will ich an den Anfang stellen – Zeit. Das Verrichten von Gebeten ist notwendig und unverzichtbar, aber das eigentliche Gebet entfaltet sich in einer geraumen Zeit, im langen Atem, in der großen Ruhe, ohne bedrängt zu sein. Diese Zeit sich zu erobern ist sicher oft schwer, aber die Liebe macht erfinderisch. Wer unbedingt eine lange Zeit will, wird sie finden. Liebende sind sehr erfinderisch. Noch so umgeben von Vorschriften und Beobachtungen finden sie einen Ausweg, um alleine zu sein. Wer unbedingt darauf aus ist auf dieses Notwendige, Zeit zu finden für sich, um ganz alleine zu sein, der wird die Zeit finden, wenn nicht an jedem Tag, dann ein paarmal in der Woche. Zeit, Ruhe, um das zu finden, was not tut, das wahre Gebet. –

Und nun komme ich auf den Anfang, auf den Eingang, die Pforte, die zum Gebet einläßt. Diese Pforte heißt "die heilige Furcht". Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit. Sie wird sehr oft verwechselt mit der Angst.

Furcht im Sinne der siebenten Gabe des Hl. Geistes und Angst sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel. Angst hat keinen Raum im Gottmenschentum, aber die heilige Furcht, das heilige Erschrecken, das heilige Erschauern, das plötzliche Gepacktsein. Zum Ausdruck kommt es im Wort des hl. Petrus: "Herr geh hinweg von mir, ich bin ein sündiger Mensch"! Dieses Bewußtsein, ich stehe angesichts des ganz anderen, einer unerwarteten Herrlichkeit, einer überwältigenden Herrlichkeit gegenüber. Auf einmal ist es da, das ganz Große, der ganz Große, riesenhaftes, überwältigendes Licht. Und ich muß mich von meinem Schrecken erst einmal erholen. Mein Schrecken muß gelindert, ich muß getröstet werden – "Fürchte dich nicht" – um zu hören, was gesagt wird.

Ja, das ist es. Ich sage, auf einmal ist es da, dieses Überwältigende. Am Berge Horeb, das Säuseln des Windes: darin ist der Herr – nicht im Erdbeben, nicht in der Feuersbrunst, nicht im Sturm, sondern im linden Lüftchen. Auf einmal steht es riesengroß da. Man weiß nicht, wie einem zumute wird – auf einmal. Übrigens ist das mit dem Säuseln des Windes genau dasselbe, wie mit der Taufe am Jordan. In Gestalt einer Taube, wie eine Taube kam der Geist. Und plötzlich ein Verstummen. Man ist irgendwo ganz anders. Man ist nicht mehr, wo man war. Man hat eine Grenze überschritten. Man ist über die Grenze hinübergehoben worden. Und auf einmal steht man vor dem Unvergleichlichen, Konkurrenzlosen, dem ganz Großen – "Herr, geh hinweg, ich bin ein sündiger Mensch".

Und die Antwort: "Komm nur, glaube nur; es ist alles gut!"

Und dann von der Seite des Erschreckten, Überfallenen: "Zu wem sollte ich gehen, als zu Dir; ich habe den gefunden, den meine Seele liebt" – diese hochaufgerichtete, unerwartete, beglückende, beseligende, überwältigende Furcht. Es hat mich erschlagen, gebannt, in Bann geschlagen. Ich erschauere bis ins Tiefste. Es ist eben dieses Staunen.

Und zu jeder wahren Liebe gehört Furcht. Es gibt keine Liebe ohne Furcht – aber eben nicht Angst, sondern Furcht, eine beseligende, durchdringende Furcht: das Staunen. Und aus dieser Furcht ergibt sich die Ehrfurcht, d.h. das Daraufaussein mit allen Fasern, das unbedingte Daraufaussein, daß dieses Höchste, das einen gepackt hat, nicht geschmälert, nicht verletzt, nicht gleichgültig behandelt wird. Ehrfurcht, mit der heiligen Furcht verbunden sein: das ist der Anfang der Weisheit und nicht die Angst, wie man lange, lange Zeit von gewissen Seiten her meinte: Druck, Prügel, Zurechtstauchung, Kasernenhofatmosphäre. Das spukt noch in einigen Köpfen. Das hat mit Tradition nichts zu tun, sondern das ist törichtes Herkommen, allzulange praktiziert, mit lauter Drohungen versehen, mit Angsteinjagung. Und ich habe mehr als einen gehört, der gewähnt hat, das sei der Anfang der Weisheit. Das ist nicht der Anfang der Weisheit. Daraus wird überhaupt keine Weisheit. Dahinter steckt eine Verachtung, eine maßlose törichte Verachtung des Menschen, den man mit der Masse gleichsetzt. Christus ist jedoch gekommen, den Menschen aus der Masse herauszuholen. Während jahrhundertelang von manchen Seiten im Raume der Kirche es so praktiziert wurde, als sei eine Masse niederzuknüppeln und in Reih und Glied zu bringen. Der Pfarrer war manchmal der Kommandeur einer belagerten Festung, und die Gläubigen waren Untertanen, die zu parieren hatten. Daraus ist nichts geworden, nur jene Dummheit, die in das Verderben des sogenannten "Konzils" schlitterte. Das ist die Frucht dieser sogenannten "Furcht", die keine war, einer stupiden Angst, aus der nichts, gar nichts hervorgehen konnte!

Furcht, das steht am Anfang, das Staunen, das Gepacktsein. Und jetzt: Vor was staunen, meine lieben Brüder und Schwestern? – Muß immer eine Erscheinung kommen; muß es wie am Jordan geschehen; muß Jahwe in irgendeiner Gestalt sich darstellen? Es kann sein. Unter einem Baume, in irgendeiner Landschaft, an irgendeinem Ort, dahin konzentriert sich manchmal das Gnadenwirken Gottes. Aber viel notwendiger ist es, das Wort des Herrn wahr zu machen: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder". Was meint Er denn damit? – Das Staunen, das urtümliche, menschengemäße Staunen. Und das ist das Staunen vor den sogenannten Selbstverständlichkeiten. Da beginnt die Menschenwürde.

Man hat sich in unserem Jahrhundert angewöhnt, und schon vorher, im Zuge der modernen Technik vor allem zu staunen über außergewöhnliche Erscheinungen, Erscheinungszusammenhänge, zu staunen über außergewöhnliche Geschwindigkeiten und Entfernungen und die Überwindung von außergewöhnlichen Entfernungen. Darüber staunt im Prinzip auch ein Schimpanse. Das ist das eigentlich menschliche Staunen nicht, sondern das menschliche Staunen, das dem Wesen des Menschen entspricht, ist das Staunen, worüber leider die Masse gähnt, das Staunen darüber, daß es mich gibt, daß es Dich gibt. Ich bin da! Ich finde das mehr als aufregend. Aber wer staunt schon darüber? Und da gibt es ein Instrument für deine stille Stunde. Und das ist nicht in erster Linie ein Instrument der Eitelkeit, sondern des Erschreckens, meine lieben Brüder und Schwestern: Ich meine den Spiegel. Seit Urbeginn des Menschen erfahren: im Bach, im Teich und dann hergestellt: Ich sehe mich. Ich gerate mir gegenüber. Das ist erschreckend! Vollzieh's doch mal. Vor fünfunddreißig Jahren war das außergewöhnlich starke Kinostück "Orphée" von Jean Cocteau aufgeführt worden. Signale aus dem Jenseits kommen da, darunter ein Signal, das da sagt: "Wer in den Spiegel schaut, sieht seinen eigenen Tod."

In einem Gespräch hörte ich mal die banale Bemerkung, warum man das so hochtrabend ausdrücke. Gemeint sei doch wohl, daß man im Spiegel feststellt, daß man altert. Das ist natürlich eine sehr törichte Bemerkung. Es ist ganz anders gemeint. Gemeint ist: ich sehe mich auf der anderen Seite; und da komme ich nicht hin. Aber ich werde mir zum Gegenstand.

Es muß mir das zum Gegenstand werden, was ich bewundere, was mich bezwingt und entzückt, in Entzücken versetzt.

Wenn es auf der Seite meines Subjektes ist, auf meiner Seite, bemerke ich es nicht, wie ich nicht die Schönheit meiner Sprache bemerke. Wie ein Bergbauer nicht die Schönheit seiner Landschaft bemerkt und bewundert, weil sie ein Stück seines Subjektes ist. Es wird ihm nicht Gegenstand. Nur wenn einer von außerhalb kommt, ein Städter meinetwegen, in eine überwältigende Bergwelt, dann bemerkt er das Überwältigende. Es packt ihn, es ergreift ihn. Er geht über vor Schauen! Und so wirst Du Dir auf einmal Objekt, Gegenstand, und Du wirst Dir Jenseits! Du gerätst in Dein Jenseits und in Deine Eigentlichkeit. Um ins Reich des Todes zu gelangen, in jenem Film "Orphée", geht Orpheus durch den Spiegel hindurch, um dort zu finden, was er sucht: das scheinbar Verlorene. Schau in den Spiegel, rede Dich an und werde darüber wach, welch ein Wunder es ist: Ich bin da; es gibt mich – höchst erregend! Wer bin ich; was soll das, daß es mich gibt; welche Bewandtnis hat es damit? Man wird nicht fertig zu staunen. Und erst dort, wo das Gähnen der Masse durchbrochen ist und das Staunen anhebt, da beginnt die große Antwort des Gottmenschen höchst bewegend, höchst interessant und spannend zu werden, diese Zusage: "ICH BIN, der ICH BIN. Und Ich will Dich, Ich will Dich ganz! Und dafür komme Ich und werde Mensch! Ich komme in Deinen Raum und in Deine Zeit und vergieße Mein Blut – ganz für Dich!" Und dann werde ich auf einmal begierig. Dann ist auf einmal das Erdreich gelockert. Da falle ich auf einmal in lockeres Erdreich, wie ein Samenkorn und gehe auf.

Diese übliche Art, wie Religion beigebracht wurde, beigebracht wurde seit Jahrhunderten, aufoktroyiert, eingepaukt, gelernt! Man hat es gelernt. Wo war da das Staunen? Die gewaltigsten Dinge wurden auswendig gelernt und mit dem Rohrstock eingepaukt. Und dann waren sie, nachdem sie aus der Schule waren, fertig, rundpoliert und taten ihre Pflicht. Es ging im Grunde doch nur darum, daß auf "allem der Segen Gottes ruhte": auf ihrem Acker, auf ihrem Geschäft usw. Sie waren geizig und gewinnsüchtig. Und diejenigen, die nichts hatten, waren "keine Leute" sie waren geringe Leute und wurden verachtet. Aber so lebten sie "unter dem Segen Gottes" ihre langweilige, öde, nichtssagende Zeit daher. Das ist kein Vorbild! Das darf nicht wiederkommen! Man rede nicht so von "Alten Zeiten", als würden wir die so wiedererwarten. Wenn die Wende kommt, muß es ganz anders werden. Denn der frühere Trott führte dahin, daß die gehorsame Herde stumpf und stupide ins Verderben nachtrottete, die große Masse gar nichts merkte und vor allem auch gar nichts merken wollte, daß da der Satan eingezogen war in den Raum des Heiligtums, da man doch alles nur auf Kasernenhof abgestellt hatte. Und beim Kasernenhof ist es egal, was der Vorgesetzte befiehlt, Hauptsache, es wird gehorcht. Und der Raum der Kirche wurde geradezu zum Übungsfeld des Gehorsams degradiert. Schön gehorsam parieren, stramm stehen. Ganz egal was befohlen wird, Hauptsache Gehorsam. Diese Schwachsinnsübung, diese Einübung in den Schwachsinn, die gab natürlich dann dem Satan freie Bahn, so daß er einrutschen konnte. Darin ist gar nichts Vorbildliches, überhaupt nichts!

Das Kindhafte muß kommen! Es wurde und wird auch heute noch allzu vorzeitig dieses Fragen niedergeknüppelt. "Frag nicht so dumm!" Dabei sind das herrliche Fragen: "Warum bin ich? Warum bin ich eigentlich kein Baum, Mutti? Warum bin ich zufällig kein Stein? Warum bin ich denn zufällig ein Mensch? Wie kommt denn das, ich hätte doch genauso gut ein Stein sein können?" Das sind ganz wesentliche, herrliche Fragen! "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder." Das meint damit der Herr: durchbrechen zu dieser staunenden Haltung, zu dieser Urhaltung, die auf einmal alles offen macht.

Und dann wird es ein Lächerliches, eine Farce, daß da einige durchwachsene Wissenschaftler vor Staunen vergehen, wenn sie ein Häufchen Mondstaub anstarren und eine ungeheure Verstandesarbeit darauf verwenden, daß man auf dem Mond landet. Das kann man gar nicht oft genug sagen. Die ganze Katastrophe, die Geisteskatastrophe unseres Jahrhunderts wird darin deutlich. Ein Riesenaufwand von Verstand, unerhört intensives Verstandesdenken für eine Farce: daß eine Fliege auf einer Lampe landet! Was soll denn das? Inwiefern ist mir das Schicksal?

Und sehen Sie, das ist das andere, was dazukommt: Die Menschheit, kollektiv gesehen, ist eine entsetzlich langweilige Angelegenheit, so langweilig wie das Landen auf dem Mond für "die Menschheit" als Kollektiv. Dann wird man auf der Venus landen und auf dem Mars, und kein Mensch wird sich mehr darum scheren, sondern wird darüber zur Tagesordnung übergehen. Es wird mich in keiner Weise retten, es wird mir keine Antwort geben auf die Frage nach meinem Schicksal, nach meinem Dasein.

Und deshalb: weg mit dem "wir"! Man reiße es aus mit Strunk und Stiel, bis aufs rohe Fleisch aus Hirn und Geist, diese Vorstellung vom "wir". "Uns hat Christus erlöst. Zu den Menschen ist er gekommen", usw.: da bin ich ja nur ein X oder Y. Da bekomm ich etwas ab; da wird es entsetzlich langweilig. Dann sagt es mir gar nichts. – Nein: ganz für mich! Ich bin die Welt, ich. Mir gehört die ganze ungeteilte und unteilbare Unendlichkeit! Mir gehört Sein Blut. Er – mir, ganz und ungeteilt! Ich bin gemeint! –

Dann wird's spannend. Geh das mal durch, das Spiegelerlebnis, die Frage, die Entdeckung: Wer bin ich? – Höchst erschreckend! Um so erschreckender, wenn Jahrzehnte zurückliegen und Du mit dem Psalmisten sagen mußt: "Ich bringe mein Leben zu wie ein Geschwätz. Ich habe es zugebracht wie ein Geschwätz; was ist daraus geworden?"

Und ich schau im Spiegel in mein Gesicht und frage mich: "Du, was ist nun, was nun? – Und dann kommt Er, der mich durch und durch kennt, der alles weiß, der weiß, wer ich bin, der mich ruft und mir die Zusage des unendlichen Erbarmens gibt!

Erst muß diese Türe aufgestoßen und mein harter Erdgrund gepflügt werden, und dann kann daraus das Gebet werden. AMEN!