Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
Kreuzwegandacht 1980
1. Station: Jesus wird zum Tode verurteilt
Wir stellen uns vor, wie Jesus vor Pilatus steht, vorher vor dem Hohenpriester, der Gerechte schlechthin, der Reinste der Reinen, der Selbstloseste der Selbstlosen. Er läßt Sich verurteilen. Er läßt sich auch verurteilen von Seinem himmlischen Vater. Da wird erzählt, wie eine Gruppe von Menschen 1945 nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes zusammenstand und jeder beteuerte: "Ja, ich bin unschuldig. Ja, wir haben uns ja nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben ein reines Gewissen." Und wie da Jesus plötzlich in ihrer Mitte erschien und sprach: "Ihr habt recht. Ich bin schuld an allem." Können wir noch von "gutem Gewissen" reden, von Unschuld, wo Er alle Schuld auf Sich nimmt? —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
2. Jesus nimmt das schwere Kreuz auf Seine Schultern
Es wird ihm hingehalten, brutal. Schwer, riesige Balken, scharf gekantet lastet es auf Seinem geschwächten, zerfleischten, gepeitschten Körper, der eine einzige Wunde ist. Dabei die Dornenkrone auf Seinem Kopf. Keine heile Stelle. Die Wunde der Menschheit ist Er! Gott wird zur Wunde aller Menschen, zur Wunde aller Seelen. Er ist für uns zur Sünde geworden. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
3. Jesus fällt zum erstenmal unter dem Kreuz
Jesus, Gott also, der allmächtige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, als Mensch fällt. Er fällt, weil wir fallen. Er fällt, weil Du und ich viel zu gleichgültig, viel zu selbstgerecht, viel zu selbstgefällig sind. Wir lieben so gut wie gar nicht. Wir lieben unser eigenes Wohlergehen vor allem. Wir lieben weder uns selbst noch den anderen, weil wir Jesus nicht lieben. Und wir können uns selbst und den anderen nicht lieben, weil wir Ihn zuwenig lieben und umgekehrt. Er fällt, und Du und ich, wir behaupten dauernd unser Recht und unsere Unschuld – wir Armseligen! —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
4. Jesus begegnet Seiner betrübten Mutter
Er ist auf der Via Dolorosa, dem Leidenswege. Grölende, dumme, primitive, ordinäre Menschen umgeben Ihn. Sie alle fühlen sich, als wären sie etwas, fühlen sich Ihm überlegen, rümpfen die Nase. Er ist der letzte, "kein Mensch", wie Er Selbst sagt, "ein Wurm", nicht mehr als Mensch geachtet, zerschunden, zertreten. Und so muß Er sehen, daß Ihn Seine Mutter so sieht. Das verdoppelt, das vervielfacht Sein Leiden unsagbar. Seine Mutter blickt Ihn an. Er blickt die Mutter an. Kein Wort. Es ist unaussprechlich. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
5. Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Hilft er wirklich? Kann er helfen? Der Gottmensch kann nicht mehr. Er hätte es auch nicht mehr tragen können in diesem Augenblick, wenn Simon von Cyrene nicht gekommen wäre. Die volle Ohnmacht, Gottes Ohnmacht. Von der Ohnmacht geht seitdem die größte Macht aus. Warum vertrauen wir so wenig der Schwachheit Gottes, der Torheit Gottes, die unendlich stärker und weiser ist als menschliche Kraft und Weisheit. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
6. Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
Wir stellen uns vor, die Menge, dicht gedrängt, die übelriechende Straße. Gelichter aus der Unterwelt drängt sich hervor, auch irgendeine dabei, Veronika genannt. Sicher nicht hochgeehrt, sicher nicht von der Seite derer, die sich bürgerliche Tugenden zurechnen dürfen. Aber in ihr kommt ganz einfach auf, ganz spontan, ganz selbstverständlich Mitleiden, ein wenig Trostgeben-Wollen, eine kleine Geste. Sie legt Ihm das Schweißtuch auf. Und Er antwortet mit dem Antlitz Seiner Liebe. Wahres Mitleiden, nicht im großen Gefühl, nicht in Sentimentalität, sondern ganz im Ernst, ganz selbstverständliches Miterleben mit dem anderen ruft das Antlitz, das liebende, unendlich leuchtende, milde, festliche Antlitz des Erlösers auf den Plan. Und dieses Antlitz schaut Dich an, wenn es Dir ernst ist. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
7. Jesus fällt zum zweitenmal unter dem Kreuz
Auch wir fallen immer wieder. Das Gesetz aus der Tiefe kommt immer wieder durch, das andere Gesetz, das Gesetz des Fleisches, die heimliche Rachsucht, die Selbsttäuschung, das, von uns selbst nicht bemerkt, Gemeine, Machthunger, Mißgunst, Neid, Genußsucht. Aber die Genußsucht ist noch die harmloseste aller Untugenden, das leichteste der Laster. Schwerer wiegt, daß wir nicht lieben. Immer wieder wird uns das Zeugnis unserer Armseligkeit ausgestellt, wenn wir redlichen Gewissens sind, von diesem redlichen Gewissen. Jesus fällt deshalb abermals. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
8. Jesus begegnet den weinenden Frauen
Auch ein anderes Mitleid siehst Du. Es ist das nicht echte des bloßen Gefühls. Da weinen Frauen, weil sie den Anblick nicht ertragen können, weil sie sich aalen im eigenen Empfinden. Darum verweist Er sie auf den Ernst, auf das Eigentliche, auf Los und Schicksal, auf die wahre Entscheidung. "Betet für eure Kinder und Kindeskinder. Denn wenn das am grünen Holze geschieht, wieviel mehr wird es am dürren Holze geschehen." Beten wir, wir dürres Holz! —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
9. Jesus fällt zum drittenmal unter dem Kreuz
Dreimal hat Petrus Ihn verleugnet. Dreimal mußte Petrus wiederholen, daß er Ihn liebt. Dreimal fällt Er. Dreimal, die heilige, göttliche Zahl: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Drei: die Zahl des Himmlischen wird zur Zahl des Fallens. Im Fallen richtet sich die Menschheit auf, weil es Gottes Fallen ist. In unserem Namen fällt Gott! Und Du bildest Dir noch ein zu stehen! —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
10. Jesus wird Seiner Kleider beraubt
Nackt als Mensch, nackt als Wunde, unansehnlich, entstellt, Abscheu erregend, abschreckend, ohne Hülle, der Menschheit Elend offenbarend, ohne Ausrede – Gott für uns! Er enthüllt in unserem Namen die Blöße unserer Schmach und nimmt dies auf Sich. Und Du und ich? – Jesus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner! —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
11. Jesus wird ans Kreuz genagelt
Gott heftet Sich unentrinnbar an den Galgen. Gott erfährt den ehrlosen Tod, die schändlichste Form der Todesstrafe – Gott ans Kreuz genagelt, befestigt! Unwiderruflich hat Sich Gott mit unserer Not und mit unserer Schande vereint, damit wir leben durch Ihn, Ehre finden in Ihm, Seine Ehre, Seinen Namen, Sein Leben. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
12. Jesus stirbt am Kreuz
Gott erleidet den Tod. Gott erleidet die Trennung von Seele und Leib. Gottes Leib – tot. Gottes Leib im Schoß der Erde, im Schoß Mariens und in der dunklen Nacht der Innerwelt. Er steigt hinab in die Innerwelt, wo die Seelen schmachten nach Erlösung, steigt in alle Höllen herab, steigt ins Nichts. Gott erfährt das Nichts. Gott wird gottverlassen. Trostlos. Jahrtausende des Grauens sammeln sich in Seinem Tod. Dagegen wiegen unsere Kreuze, unser Sterben, mag es noch so furchtbar sein, leicht, sehr leicht. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
13. Jesus wird vom Kreuze abgenommen
Jetzt ist das Kreuz geheiligt. Das Kreuz trug Gott. Gott trug das Kreuz. Aller Welt Weh und Leid und Ach, Schrecken und Grauen ist göttlich geworden. Das Sterben ist göttlich geworden. Jedwede Krankheit, Schmach, Erleiden von Ungerechtigkeit, Vergessen-, Verstoßensein, Verspottet-, Verkannt-, Falsch-beurteilt-Sein: das ist alles göttlich geworden. Jesus, Gott wird vom Kreuze abgenommen. Und Er hinterläßt uns zum Erbe das vergöttlichte Kreuz. Und wie wehren wir uns gegen das Kreuz! —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
14. Jesus wird ins Grab gelegt
Nun kommt Er in die Erde als Same der Auferstehung – Er, ja auch Er, in die Innererde, die wir Vorhölle nennen, in das vielstufige Reich der Erwartung, in den Schoß Abrahams, der Verheißung, aber auch in die letzte Chance des reichen Prassers. Nun kommt Er und winkt Ihnen mit Seinem siegreichen Geiste. Er, der Mensch, der Gottmensch, holt sie heim und schickt Sich an, zurückzukehren in Seinen Leib, der eine einzige Wunde ist, und ihn zum leuchtenden Signal unserer ewigen Macht und Wonne zu erheben. AMEN. —
"Jesus, Dir leb ich. Jesus, Dir sterb ich. Jesus, Dein bin ich im Leben und im Tode. AMEN."
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