Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
Karfreitag 1983
Meine lieben Brüder und Schwestern,
versammelt zum Gedenken des Hinganges unseres Herrn. Zweifach ist der Abgrund, in den der Herr steigt. Gott ist Mensch geworden, um ganz in den Menschen einzugehen und alles Menschliche in Sich aufzunehmen. Er ist im vollen Sinne Mensch geworden. Er steigt in die Tiefe dessen, was der Mensch von sich aus tut und denkt und will.
Was ist das? Wir müssen es in Wahrheit zu erkennen versuchen. Zunächst einmal ist der Mensch groß, und dies in seiner tiefsten Tiefe. Diese tiefste Tiefe liegt allem voraus, was wir am Menschen bemerken und was der Mensch selber an sich feststellt, was er wahrnimmt, was er tut, will, denkt, leidet, erfährt. Diese tiefste Tiefe, sein wahres Sein, das ist der Gedanke Gottes von ihm! Gott denkt den Menschen. Und was Gott denkt ist Licht, ist groß und herrlich. Was der Mensch ist, stammt aus dem Gedanken Gottes. Daß der Mensch da ist, stammt aus dem Willen Gottes, der will, daß dieser Gedanke real werde. Aus dem Nichts heraus läßt Er Seinen Gedanken existieren. Und die Existenz, das Dasein des Menschen entspricht insofern und insoweit seinem wahren Wesen, wie sich der Mensch dem Willen Gottes hingibt und fügt. Dann lebt er aus dem Gedanken und aus dem Willen Gottes. Und er wird eins mit sich selbst und groß und mächtig und hell.
Aber, siehe da, der Mensch hat sich von Gott gelöst. Er ist dem Wahn verfallen, er könne aus sich selbst – von unten her – aus eigener Kraft sich gestalten und entfalten. Und so hat sich der Mensch von seinem Seinsgrunde gelöst und ist das Nichts und die Lüge seiner selbst geworden! Das ist genau das, was der Herr meint mit dem Worte „Der Mensch ist zum Bösen geneigt von Jugend auf“, von seiner Tiefe, von seiner Bewußtseinstiefe her kraft des verneinenden Willens, des Nichts-Willens, des Willens, der aus dem Nichts wahnhaft im Irrsinn sich selber gestalten will. Denn der Mensch ist ins Dasein gerufen von Gott aus dem Nichts. Und er wird nur ein Sein, sofern er sich mit dem Gedanken und Willen Gottes vereint! Will er sich aber von Gott lösen, dann ersteht er selbst aus dem Nichts, und alles, was er hervorbringt, sind Spielarten des Nichts. Und dieses Nichts ist abgrundtief, böse, chaotisch und trägt in sich alle Möglichkeiten jeglichen Verbrechens, jeglicher Sünde!
In diese Tiefe steigt der Herr ein, in die Daseinstiefe des verirrten, eigensüchtigen Menschen, der sich selber verloren hat, außerhalb seiner selbst, außerhalb des Gedankens Gottes zu leben wähnt und Leben gestalten zu können wähnt! In diesen Wahn begibt Sich nun Gott und erfährt ihn mit all seinen Schrecknissen und allen seinen Möglichkeiten. Er ißt und trinkt des Menschen Verlorenheit, Gottesferne und Not und Gemeinheit und Bosheit. Er nimmt alles in Sich hinein und wird für uns zum Sünder, zur Sünde. Nicht daß Er persönlich sündigte – Er wird uns ja in allem gleich, die persönliche Sünde ausgenommen –, aber Er wird für uns zur Sünde und nimmt das auf Sich, was der Mensch kraft seines verkehrten Willens unter dem Einfluß Satans gewählt hat – das Nichts! Darum sagt der hl. Paulus mit Recht, daß Er Sich entäußert und ins Nichts eingeht. Und das ist abgründig, entsetzlich! Das treibt Ihm den Blutschweiß aus den Poren und quält und schlägt Seine Seele!
Das ist der eine Abgrund, in den Sich der Herr begibt. Es ist genau der Abgrund, der in der sinnbildlichen Sprache der hl. Schrift mit dem „Zorn Gottes“ bezeichnet wird. Gott zürnt nicht. Das widerspräche Seinem Wesen: „Gott ist Licht, und in Ihm ist keine Finsternis.“ Aber außerhalb Seiner, ohne Ihn, im Nichts, da, wo Er nicht ist, wo Sein Licht nicht scheint, was dort ist, das nennen wir „Seinen Zorn“! Und da steigt Christus ein.
Aber Er steigt noch tiefer, weil Er das Sein des Menschen, seine Wahrheit, seine Eigentlichkeit, sein Licht erkennt! Und Er mißt es leidend an dem, was die tatsächliche Entscheidung des Menschen mit sich bringt und besagt.
Also: Von der Höhe hinab, ganz in die senkrechte Tiefe des Menschen hinein, in die Tiefe seiner zerrütteten, verkehrten Existenz und in die Tiefe seines Seins, um das sehnsüchtige Verlangen der Seinstiefe zu erwecken und herauszurufen, damit „Ecclesia“ werde, d.h. die Herausgerufene. Liebend steigt Christus, der menschgewordene Gott, in das ein, was Ihn selber beleidigt. Er steigt in die Zonen der Verweigerung ein, die Ihn selber treffen. So wird Er für uns zur Sünde! Aber aus diesen Zonen menschlicher Gemeinheit, die Er erfährt, aus diesen Zonen heraus liebt Er den Menschen, liebt Er jeden Menschen! Und Er weiß, daß das Vergleichen äußerer wahrnehmbarer Bewährung, wahrnehmbarer Taten usw., daß dieser Vergleich eine Fälschung ist! Wir können die Menschen nicht nach dem vergleichen, messen, wägen, werten, was sie tun oder lassen, sondern die Gesinnungstiefe, das ist das Wahre in der Entscheidung des Menschen, das besagt seine Grundhaltung, wo ist er angesiedelt, im JA oder im NEIN. Wir sind nicht imstande, durch Vergleich äußerer Bewährung dies zu beurteilen!
Aber, meine Freunde, die Welt will auf der Waagerechten bleiben, auf der Ebene der Massen, auf der Ebene, der bequemen Ebene der Oberflächlichkeit, wo der eine aufgrund seiner Taten Recht für sich beansprucht, um aus eigener Kraft Gott sein zu wollen, oder er wähnt, aufgrund seiner Taten aus eigener Kraft vor Gott bestehen zu können! Und all die, die an der Oberfläche, an der Feststellbarkeit, an der Wahrnehmbarkeit, an der Vergleichbarkeit festhalten, müssen Gott hassen, weil Er liebend in die Tiefe einsteigt und damit jeden äußersten Verbrecher mit Seiner Liebe umfängt! Liebe begegnet dem Haß, der Mißgunst, dem Neid, dem Hochmut, dem Wahn, der Lüge!
Und darum muß Gott aus der inneren Notwendigkeit Seiner Liebe heraus, die aus der Tiefe, aus den Abgründen des Dunkels heraus liebt, um die noch tiefer liegende Lichttiefe zu befreien, darum muß Gott als Mensch getötet werden, Furchtbares erleiden!
Und indem Er aus Liebe seelisch grenzenlos leidet und körperlich den schrecklichsten aller Tode erleidet, indem Er alles, was Not, was Grauen, was Entsetzen, Verzweiflung, Unlust, Lebensverneinung sein kann, in Sich hinein ißt und trinkt, so gibt Er Sich hin und reißt damit die Verlorenheit des Menschengeschlechtes hinauf in Seinen Hingang zum Vater und verwandelt all dies ins Licht, so daß nunmehr diejenigen, die „guten Willens“ sind, nur noch Gutes erfahren können. Und es wird ihnen alles zum besten gereichen – auch die Sünden! –, wenn sie nur „JA“ sagen zu dem, den sie durchbohrt haben.
Das ist der große Werdegang: aus der Höhe des Lichtes hinab in die tiefste Tiefe und aus der tiefsten Tiefe hinauf ins Licht. Und Er nimmt die verlorene, abgründige, bösartige Tiefe des Menschen als Gefangene mit hinauf ins Licht. So sind wir verwandelt. So haben wir den großen Trost. So brauchen wir uns nicht mehr zu fürchten. Und wenn Du und wenn ich bemerken, daß wir versagt haben, daß wir böse sind: Willst Du Ihm gehören: JA? – Dann ist es schon gut. Dann ist es aufgehoben, hinaufgehoben ans Kreuzesholz und damit in die Garantie ewiger Wonne, ewiger Macht, ewigen Besitzes, ewiger Herrschaft. AMEN.
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