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Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch

1. Passionssonntag 1984

Meine lieben Brüder und Schwestern,

 

seien wir uns darüber im klaren, was es bedeutet. Dies sagt der Menschensohn zu den Juden, die Ihm widersprechen, die Ihn angeifern, die Ihm Vorwürfe machen: "Ehe Abraham ward, bin Ich." Zum zweitenmal in der Geschichte geschieht es, daß die Stimme ertönt: "Ich bin, der ICH BIN." Es ist die Selbstaussage Gottes von Sich. Zum erstenmal im brennenden Dornbusch: "Wer bist Du, Herr?" - "Ich bin, der ICH BIN, JAHWE."

Es ist der Name, den die Juden nicht auszusprechen wagten, den wir eigentlich auch nicht aussprechen dürften, wir, Du und ich, Staub und Asche, aus Nichts geworden, aus dem Nichts stammend. Dieser Name wurde geschrieben - "ICH bin, der ICH BIN" – , aber er wurde nicht ausgesprochen, wurde vorgelesen aus den heiligen Texten. Es wurde gesagt "Herr, der Heerscharen", "Herr", aber nicht dieser Name aus der panischen Angst, man könne diesen Namen mißbrauchen, und aus dem sicheren Instinkt heraus, meine Lippen sind es nicht wert, diesen Namen zu sagen. Und dann kommt ein Mensch und sagt dasselbe von Sich: "Ehe Abraham ward, bin Ich." Nicht etwa "war Ich schon" oder "Ich werde sein", sondern "Ich bin", das was Du und ich aus uns, aus Dir und mir, nicht sagen können – "Ich bin" –, zumal wir überhaupt keine Gegenwart für uns in Anspruch nehmen können. Gegenwart ist noch nicht unser. Es gibt kein JETZT! Das JETZT, solange wir in der Zeit leben, ist ein Nichts zwischen zwei Nichtsen, zwischen dem Noch-Nicht und dem Nicht-Mehr, zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Deshalb sagen Philosophen, daß wir "ins Nichts gehalten" sind. Wenn Du einen Punkt zeichnen willst, mußt Du ungenau sein, denn der Punkt ist ohne Ausdehnung. Also ist jede Darstellung eines Punktes notwendigerweise ungenau. Denn um ihn zu sehen, bedarf er eines Mindestmaßes an Länge, Breite und Höhe. Auch die eindimensionale Darstellung einer Linie muss ungenau sein. Denn um die Linie zu sehen, bedarf diese nur in der Länge gegebene Dimension eines Mindestmaßes an Breite. Also ist jede Zeichnung ungenau. Ebenso "mit dem Gongschlag ist es soundsoviel Uhr". Es ist ungenau. Denn um diesen einen Zeitpunkt zu vernehmen, bedarf es eines Mindestmaßes an Dauer. Das JETZT also ist ein Nichts wie ein Punkt. Wir sind immer im Fließen, im Nicht-Mehr und im Noch-Nicht, und es gibt kein JETZT.

Aber Gott ist das JETZT! "Ich bin, der ICH BIN. Ehe Abraham ward, bin Ich."

Dieser Mensch im Angesicht der feindlichen Welt sagt: "Ich bin Gott!" Deutlicher konnte Er es nicht sagen. Er offenbart Seine Gottheit. Dieser Mensch ist Gott! Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch vergöttlicht werde. Und Gott erhebt Sich als Mensch sichtbar vor unseren Augen, vor unseren Sinnen. Sichtbar vor uns, unabhängig von uns ist Er. Er bietet Sich Dir und mir an – aber Er bedarf Deiner nicht und meiner nicht! Er ist völlig frei, souverän. Und Er stellt Sich Dir dar, nicht weil Er Dich braucht, sondern weil Du Ihn brauchst, Ihn, den Einzigen, der alles weiß, der Dich kennt, der Deine Gedanken und Nöte kennt – Du, in dem Du aufgehst, Du, der Du nach Grenzenlosigkeit verlangst.

"Ehe Abraham ward, bin Ich": das bedeutet der Name Jesus, im Anschluß an unsere Betrachtungen an das Jesus-Gebet. "Jesus" ist der Name des Menschensohnes, der Gott ist, Gott und Mensch, in der einen göttlichen Person des Gottsohnes sichtbar geworden, gleichzeitig geworden. Er nimmt Raum und Zeit an, um in der Gestalt von Raum und Zeit über Raum und Zeit erhoben zu sein. Das ist die Erlösung! Das wollen wir! Wir wollen, daß hier an unserem Ufer, dort, wo wir sehen und hören, tasten und schmecken und riechen, hier, wo wir wahrnehmen, hier, wo unsere Welt ist, daß da die Überwelt hineinkommt, in unserer Zeit die Überzeit Zeit annimmt, in unserem Raum der Überraum Raum annimmt, so daß das, was gesagt wird von Ihm, im Gegensatz zu allem sonst Gesagten ewig gilt! Unabhängig von Raum und Zeit erhebt sich in Raum und Zeit das Ewige und Entrückte. Genau das will und ersehnt der Mensch aus seiner Tiefe!

Was ergibt sich daraus? – Wenn Du Jesus einem Menschen bekannt machen willst, dann sage diesem Menschen, daß Jesus seine Sehnsucht erfüllt, daß er in allem, was er verlangt, letztlich nur Ihn verlangt: Gott, den nahe, unvorstellbar nahe gewordenen Gott! In allem Verlangen zielt der Mensch auf Ihn, ob er es weiß oder nicht. Es muss nur dem Menschen deutlich gemacht werden: Du suchst Ihn, Du brauchst Ihn! Ohne Ihn bist Du hoffnungslos einsam! Er will Dich, kennt Dich! Er ist entbrannt für Dich! Er ist besessen von Dir! Er sagt "Du", meint Dich und ist von Dir entflammt! Du bist Seine Leidenschaft! Und Er ist das flammende Interesse für Dich! Es gibt dieses gebannte, freie Interesse für Dich, das von Dir unabhängig ist und Dich frei wählt und frei für Dich lodert: und dieses Interesse für Dich heißt Jesus!

Warum sage ich das so deutlich? – Weil meistens die Sache falsch aufgezogen wird, umgekehrt. Zunächst wird weithin, leider in der Seelsorge seit Jahrhunderten, in der Familie, wo auch immer, mit den Moralien angefangen. Jesus wird vorgestellt mit erhobenem Zeigefinger. Das alles ist sehr, sehr gut gemeint. – Was will Jesus? Warum ist Er da? – Damit Du brav bist. Das darfst Du nicht, jenes mußt Du tun. Gott will, daß Du das tust, Gott will nicht, daß Du jenes tust. Du musst, Du sollst, Du darfst nicht.

So fängt's doch an. Das ist die Anfangserfahrung und meistens die durchgängige Erfahrung des katholischen Christen! Katholisch sein heißt: Jenes müssen, dieses nicht dürfen. Also eine Last, katholisch zu sein. Und so mancher hat eines Tages alles von sich geworfen. "Was schert mich das Ganze noch? Ich will von allem nichts mehr wissen. Ach, wie fühle ich mich jetzt so frei!" – "Frei", heißt es dann, von Fremdbestimmung. "Ich bin jetzt eigengesetzlich, mein eigener Herr, lebe aus mir selber, wünsche aus mir selber, tue das Meine, gestalte mein Leben nach meinem Geschmack. Und so finde ich wieder Geschmack an meinem Leben. Endlich bin ich's los, dies ganze drückende System, diesen Katalog von Verboten und Geboten!"

Das kommt davon, wenn man damit anfängt. Wenn Du einen zu Christus führen willst, dann darfst Du niemals damit anfangen: "Er will von Dir dies und verbietet Dir das andere." Wie falsch ist das! Jesus heißt: "Sei getrost, Ich bin's." Du wartest auf jemanden. Du bist einsam. Du bist unverstanden. Du hast eine innere Not. Dir hängt alles zum Hals heraus. Dir ist alles nicht genug. – Ja es ist auch richtig, daß Dir nichts genug ist. Es kann Dir gar nichts genug sein. Denn Du bist aus Deinem innersten Wesen heraus unersättlich. Darum komme man auch nicht mit so törichten Hinweisen wie, "im Krieg wären wir froh gewesen, wenn wir dieses oder jenes gehabt hätten" oder "wie glücklich wären wir gewesen, wenn wir in der Hungerzeit das zu essen oder anzuziehen gehabt hätten" und "fragt die Gefangenen in Sibirien: wie überglücklich waren sie, wenn sie ein bißchen warme Hütte hatten, und wir sind so anspruchsvoll". Das ist unsagbar töricht! Der Mensch kennt keine Grenze und kann's an keiner Grenze aushalten!

Wir sind nun mal nicht bescheiden. Die Bescheidenheit ist eine Tugend für Dämliche, die nicht merken, was sie eigentlich aus ihrem innersten Wesen heraus sind und wohin sie drängen: nach Unendlichkeit, nach allem! Jawohl ich will alles: Endlose Lust – Lust! –, Macht, Besitz, Ruhm! Jede Grenze ist Hölle! Wo die Grenze gesetzt wird, ist dabei vollkommen gleichgültig. Wenn ich kein anderes Problem habe wie in Gefangenschaft, also wenn nichts anderes geredet wurde als über den Nachschlag, "wann sind wir dran beim Nachschlag", das vereinfacht selbstverständlich alles ungeheuer. Nachher wird das Leben komplizierter. Man hat genug zu essen, dafür tritt anderer Ärger ein. Das Kreuz hört nie auf! Die Not hört nie auf! Der Hinweis auf größere sogenannte "Not" ist sehr töricht, denn Not ist immer, Du leidest immer! Vor vollsten Schüsseln und im chromblitzendsten Auto, in der tollsten Limousine und mit höchstem Bankkonto: Immer leidest Du! Und darum bedarfst Du immer dessen, der Dir sagt: "Ich weiß um Dein Leiden, und Ich verstehe Dein Leiden. Und wenn niemand Dein Leiden versteht: Ich verstehe es! Du verlangst, und Du kannst gar nicht anders, als nach Endlosigkeit verlangen. Hier bin Ich und biete Dir die Endlosigkeit, jetzt schon geheimnisvolle Macht, jetzt schon im Kreuze, das Ich mit Dir trage und in Dir trage."

Jetzt schon ist im Kreuze unabsehbare Macht. Jetzt schon bist Du verstanden. Jetzt schon hast Du den innig Liebenden. Jetzt schon ist Deine Einsamkeit durchbrochen. Und es geschieht ganz schnell, die Jahre rauschen vorüber, und dann geht das Tor auf, und dann werden alle Deine Sehnsüchte durch die Gnade des unendlichen Erbarmens gewährt. Alles Verlangen wird gestillt, alle Sehnsucht beantwortet in Hülle und Fülle. "Lust will Ewigkeit", sagt Nietzsche, und er sagt es mit vollem Recht. Dieser Kribbelkram kleinbürgerlicher Tugenden, immer schön bescheiden sein, ist eine Festnagelung kleinkarierter Vorstellungen und geistigen Kleinrentnertums. Wir sind nicht Christen aus Blutmangel und Mangel an Lebenswillen, sondern wir sind Christen aus äußerstem, flammendem Lebenswillen heraus! Und diesen höchsten Lebenswillen beantwortet Jesus, der Deinste, der Dir Nächste, der Verstehendste, der Vertrauteste.

Und wenn Du dann mit Ihm eins bist und von Seinen Flammen angesteckt, dann braucht Dir auch niemand mehr zu sagen, dieses darfst Du, jenes darfst Du nicht. Liebe einen Menschen, liebe Dein Kind, und es braucht Dir niemand zu sagen, dies darfst Du und jenes darfst Du nicht. Das ergibt sich dann aus der Liebe von selbst, wie der hl. Augustinus sagt: "Liebe, und dann tu, was Du willst." Du wirst automatisch tun, was sich aus der Liebe ergibt. Aber zeige erst den, der Sich Dir selber schenkt, zeige Ihn als den großen Verheißenden, den Verstehenden, den Vertrauten mit Deiner berechtigten Unzufriedenheit. Er sagt "JA" zu Deiner Unzufriedenheit und ist der einzige, der Deine Unzufriedenheit bestätigt und aufzuheben vermag, weil Er für Dich die Unendlichkeit und die grenzenlose Fülle bereithält.

Nur so bekommst Du einen zu Christus und nicht, indem Du ihm dauernd sagst, er soll doch froh sein, bescheiden sein und hübsch brav sein und schön seine Pflichten erfüllen und dies tun und alles mit Maß und Ziel und von allem ein bißchen und man darf ja, aber immer nur von allem ein Fitzchen, damit man möglichst lang lebt. – Wozu eigentlich, wenn man von allem nur ein Fitzchen haben darf und wenn alles nur mit Maß und Ziel geschehen soll und man immer nur bei dem einen stehenbleiben soll? Warum soll ich dann eigentlich so lang gesund sein, wozu eigentlich gesund sein? Um mich ein lebenlang abzurackern, um mir ein schönes Häuschen zu bauen und ein Vermögen anzulegen, das ich dann meinen Erben vermachen kann – "Ich habe immer Treue und Redlichkeit geübt"? – Du Vollidiot! Denn nachher kommen drei Schippchen Erde, und dann heißt es: Wir wollen ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Und das ist dann die letzte Lüge, die Dir zum Abschiedssegen noch bereitet wird.

Nein! Das ist ja genau das, was Du nicht willst! Und deshalb kannst Du es überhaupt nur durch die Jahrzehnte hin aushalten in allen notwendigen Beschränkungen und Entsagungen, weil Du weißt: Einst wird kommen der Tag, und dann öffnet sich die Schleuse, und endlich strömt dann in mein Bewußtsein, in mein Erfahren alles ein, was je ich ersehnt; und ich kann schlürfen mit vollen Zügen alles, was je ich verlangte und das, was noch die Vorstellung meines Verlangens übersteigt, unendlich übersteigt. Denn ich verlange nach dem, was mein Verlangen übersteigt, und ich sehne mich nach dem, was meine Sehnsucht übersteigt.

Das ist Jesus, der die Antwort auf Dein glut- und blutvolles Lebenswollen gibt und ist! Nur so wirst Du auch denen begegnen können, die heute junge Menschen ungeheuer verführen. Sagt ja nicht den jungen Menschen, "Euch geht's zu gut"! Das ist alles Unsinn! Keinem geht's zu gut. Das hab ich eben dargelegt. Aber die Menschen, diese jungen Menschen haben keine Ahnung von Christus! Sie wissen nur, daß sie auf dieses und jenes dauernd verzichten sollen, daß sie dauernd ein schlechtes Gewissen haben, daß man dauernd sagt, dieses tut man nicht, jenes tut man nicht. Und dann kommt auf einmal so ein Bhagwan und sagt: "Ach, werde endlich frei! Fang endlich an Dich selber zu lieben, und erfülle Dir Deine Wünsche, und lebe ganz bewußt Deine Wünsche" – und dann kommt die Lüge hintendrein! –, "dann wirst Du ein viel gelösterer Mensch. Du wirst aus Dir herausgehen, und Du wirst im Bewußten erleben, alles tranzendierend übersteigen und Dich im Bewußten erleben und genießen. Wo es keine Verbote gibt und keine Grenzen, da wirst Du Dich selber übersteigen und Dich selber finden."

Eine totale Lüge, eine totale Täuschung! In den ersten Wochen und Monaten mögen gewisse verängstigte, verklemmte, gequälte Leute, die von Christus nur wissen, daß es Gebote und Verbote gibt, also die Christus nie kapiert haben – die haben ja Christus nie kapiert, die immer nur, wenn sie an die Kirche und an Jesus denken, daran denken, daß sie möglicherweise sündigen! Das ist furchtbar! Das ist sehr verbreitet, ich möchte fast sagen: überwiegend! Wenn Leute an Kirche denken, spukt sofort die Sünde durch ihr Gehirn: Das ist Sünde, jenes ist Sünde. – Das kriegen schon die kleinsten Kinder gesagt. "Hört das auf! Laßt das sein! Und das und das darfst Du nicht, und jenes ist Sünde. Du hast eine schwere Sünde begangen." Das ist eine schwere Sünde, jenes ist eine schwere Sünde: und Sünde hinten und Sünde vorne – nicht wahr! Die kommen überhaupt nie dazu, Christus je zu kapieren - nie, nie, nie! Das ist vollkommen klar.

Daß die natürlich, wenn sie auf einmal ganz andere Flötentöne hören, sich zunächst befreit fühlen, ist selbstverständlich. Nur wird das relativ kurze Zeit dauern, vielleicht ein bis zwei Jahre, und dann werden sie hysterisch, weil sie dann nämlich merken: "Es wird ja doch nicht erfüllt, was ich ersehne. Ich bin ja doch gehindert zu genießen, was mein Innerstes will. Ich stoße ja doch an Grenzen. Das Gefühl der Freiheit, das ich da erfahren habe, war ja doch eine Illusion."

Und dann kannst Du ihnen anfangen, richtig mit Christus zu kommen und was Christus ist. Und dann werden sie Christus endlich – vielleicht – richtig kapieren. Denn ich aus mir selber kann mich nicht befriedigen. Ich, in der Erfüllung meiner aus mir kommenden Wünsche, kann mich selber nicht erfüllen. Ich brauche den Anderen, mein zweites ICH, mein ich-estes ICH, mein Du-estes DU, den großen Begegnenden, den Zweiten, der meine Einsamkeit durchbricht und alle Verheißung von Wonne und Herrlichkeit in Sich birgt, den "Ich bin, der ICH BIN", in dem ich aufatmend auch sagen kann: "Ich bin."

Von dem Datum an begreifst Du Christus! Wenn Du Christus anders begreifst als einen nur auf Dir Lastenden, der überall nur Haltesignale setzt, dann wirst Du Dich für eine Weile befreit fühlen, wenn Du von Ihm loskommst. Und dann sei der gesegnet und beglückwünscht, der wenigstens auf Umwegen irgendwann mal den wahren Christus kennenlernt, den Erfüller Deiner grenzenlosen Sehnsucht! AMEN.

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