Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
18. Sonntag nach Pfingsten 1985
Meine lieben Brüder und Schwestern,
das ist das Evangelium, die Perikope, an die eine Betrachtung über das Bußsakrament folgt. Es soll wieder geschehen, daß wir uns darüber einige Gedanken machen, Gedanken über das Bußsakrament.
Je höher etwas ist, je größer und mächtiger, desto eher kann es mißbraucht werden. Das Bußsakrament ist ein überwältigendes, beglückendes Sakrament. Aber der Mißbrauch besteht darin, daß man geradezu von einem Zwang getrieben werden könnte, ununterbrochen, möglichst oft die Worte der Lossprechung zu hören, sonst glaubt man nicht an das Erbarmen; man glaubt sonst nicht daran, daß die Sünden vergeben sind. Manche – und nicht wenige! – meinen, erst im Empfang des Bußsakramentes werden die Sünden gelöscht; und vom Empfang der Lossprechung bis zum nächsten Mal sammeln sich die Sünden, und dann erst werden sie beseitigt.
Falsch: Die Lossprechung wirkt zeitlich rückwärts und vorwärts! Die Lossprechung statuiert die Macht des Erbarmens. Und es ist außerordentlich wichtig für den Glauben des Menschen, daß er an das Erbarmen sich hinwendet voll grenzenlosem Vertrauen, daß er nach jeder Feststellung seiner Sündhaftigkeit sich dem Erbarmen öffnet bzw. schon gleich, am Morgen, zu Beginn des Tages – und Dein Leben ist der jeweilige Tag – sich dem Erbarmen öffnet, ausliefert, preisgibt: "Ich will Dein sein. Ich will Dir gehören. Hl. Geist, der Du Selber die Vergebung der Sünden bist! Ich verschreibe und verschwöre mich Dir, der Vergebung der Sünden."
Und dann ist die Feststellung jeder Sünde ein Anlaß der Freude und der Trauer zugleich. Trauer, weil man durch diese Sünde den Herrn beleidigt hat, Seine Ehre, weil sie Undankbarkeit bedeutet gegenüber Seiner überwältigenden Hingabe. Denn stell Dir vor, der menschgewordene Gott hängt am Galgen in Schande und Verzweiflung und vergießt Seine letzten Blutstropfen für Dich; all dies total, ungeteilt für Dich! Angesichts einer solch überwältigenden Gewalt des Erbarmens kann es selbstverständlich kein grundsätzlich "gutes Gewissen" geben. Das Behagen des "guten Gewissens" ist dem wahren Christen nicht erlaubt, versagt! Unsere Ruhe, unsere Freude beruht im Bewußtsein des Erbarmens!
Und in der Tat kann ich alles übertreiben, nicht jedoch das Erbarmen des Herrn und das Vertrauen ins Erbarmen. Das kann nie übertrieben werden! Das ist nie groß genug! Das muss immer noch unendlich gesteigert werden. Es gibt kein übertriebenes Vertrauen in Sein Erbarmen!
Und je mehr ich mich diesem Erbarmen öffne und mich vertrauend aufschließe, umso mehr wirkt es in mir. Und ich muß das Erbarmen selber bitten, mein Vertrauen in das Erbarmen zu steigern. Er wirkt in mir – "Komm Hl. Geist!" – und jede Sünde, die ich an mir feststelle, ist Anlaß, wie gesagt, der Trauer, der hl. Reue. Aber die hl. Reue ist von Freude gezeichnet, denn so wahr ich sündige, so wahr weiß ich um das Erbarmen. Denn die Sünde ist ein Magnet für das Erbarmen.
So wahr der Speer des Soldaten die Seite des Herrn durchbohrt, so wahr kommen Geist, Wasser und Blut heraus in grenzenlosen Strömen. Wo die Sünde überhand nimmt, wird die Gnade überschwenglich! Das ist die große, dynamische, bewegende Freude des Christen; und die ist nicht beschränkt auf den Akt, auf das Datum der Lossprechung, sondern etwas Ununterbrochenes!
Die Lossprechung, das ist immer der Höhepunkt, die Kumulation des Erbarmens und vor allem dann wirksam, wenn ein Mensch, sich selbst vergessend und sein Heil und seine Würde und den Sinn seines Daseins vergessend, sich bewußt und freiwillig, getrieben von falschen Wünschen und Begierden, gegen Gott entschieden hat in einer gravierenden Sache, in der Substanz des göttlichen Willens, wenn er also in Todsünde gefallen ist und dadurch die Verbindung mit Gott zerbrochen ist. Wenn er mit Gott gebrochen hat, dann ist es herrlich zu wissen: Ich kann hintreten, ich kann zu Ihm hin und kann die Worte der Lossprechung vernehmen, und es ist alles gut – alles!
Und hier setzt eben diese kumulative, alles übersteigende, zusammenfassende, überwölbende Gewalt des Erbarmens an, die in den Sätzen beschlossen ist: "Ego te absolvo – Ich spreche Dich los." Das ist wirklich der Einbruch der Ewigkeit in Raum und Zeit, der Einbruch der Senkrechten in die Waagerechte. Die Waagerechte wird durchschlagen wie der gordische Knoten. Wie ein Strahl, wie ein Feuerstrahl werden die logischen Gesetze der Waagerechten durchbrochen. Das, was Schiller sagt und was für das waagerechte Denken gilt, "Ewig still steht die Vergangenheit", wird aufgehoben. Die Sünde wird nicht nur vergeben – sondern ungeschehen gemacht! Sie wird gelöscht, nicht nur verziehen, wie wir so in unserer Unvollkommenheit zwischenmenschlich zu sagen pflegen: "Ich hab das zwar verziehen, aber ich kann's nicht vergessen. geschehen ist geschehen." – Nein, so ist es eben von Gott her nicht! Es ist eben nicht mehr geschehen. Die Sünde ist überhaupt nicht mehr da; nicht nur verziehen, nicht nur vergeben – ausradiert, ungeschehen gemacht! Das kann man gar nicht oft genug sagen!
Und diese löschende Wirkung des Erbarmens zieht sich aus der Gewalt, aus der monumentalen, übermenschlichen Gewalt des Ego te absolvo in die Zukunft hinein. Und wer von dem Erbarmen trinken und essen will, dem steht es grenzenlos zur Verfügung. Wer das rechte Vertrauen hat und sich öffnet, in den strömt es ein – grenzenlos, belebend, erhebend!
Jetzt könnte jemand sagen, es wäre ein Anreiz zum vermessenen Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit. – Das Vertrauen kann gar nicht tollkühn, gar nicht verwegen genug sein!
Nun: "Vermessenes Vertrauen" in Gottes Barmherzigkeit, das ist eben kein Vertrauen, sondern ein Frevel. Das "vermessene Vertrauen" auf Gottes Barmherzigkeit ist eine Haltung, der es eben gar nicht um das Erbarmen geht, sondern um die Legitimation der Sünde durch das sogenannte "Erbarmen", das es in diesem Zusammenhang freilich nicht gibt! Ich kann nicht auf das Erbarmen hin frisch, fröhlich zur Sünde schreiten und das Erbarmen gleichsam Schmiere stehen lassen für meine geplante Sünde. Das ist selbstverständlich Unsinn! Aber wem es um das Erbarmen geht, der kann überhaupt nicht kühn, nicht bedenkenlos genug sich öffnen und dem Erbarmen sich hingeben und sich ins Erbarmen fallenlassen. Und mehr bedarf's nicht.
Wer darum weiß, daß man seine Sünden hintragen kann zu dem Menschen, zu dem leibhaftigen Menschen, der in der Person des Christus, des menschgewordenen Gottes das Gericht des Erbarmens ausübt, der wird den Weg zum Beichtstuhl hin nicht versäumen. Er wird immer wieder kommen, aber nicht in dieser hektischen, glaubenslosen Abhängigkeit, die davon ausgeht, als würde zwischen Lossprechung und Lossprechung das Erbarmen gleichsam suspendiert sein, als würde es dann schweigen, als wäre das eine erbarmenslose Zeit. – Das ist FALSCH! Das Erbarmen wirkt zwischen Lossprechung und Lossprechung durch die Wochen hin – ununterbrochen, mit geballter Kraft! Und wer je es im Ernst für sich in Anspruch nimmt, wird nie in zynischer Gleichgültigkeit darüber hinweggehen, sondern, getrieben von der Freude über das bleibende Gottmenschentum, aus Menschengesicht und Menschenmund die Worte begehren: Ego te absolvo.
Das ist eben das spezifisch Katholische, daß wir behaupten und behauptend wissen im absolut sichersten Wissen, daß Gott auf Erden erscheint in Raum und Zeit, daß wir Ihn hören und sehen können, daß Er im Fleische erscheint, daß es nicht ein gewesenes Ereignis ist, das wir in irgendeinem Buche nachlesen können, sondern das, was wir in der hl. Schrift gewahren, das ist Gegenwart, hier und jetzt! Hier und jetzt ereignen sich für Dich und für mich jeweils total und ungeteilt Epiphanie, Einbruch des Göttlichen in die Welt. Und der Einbruch des Göttlichen ist der Einbruch, der bereinigende, des Erbarmens.
Wenn wir das nicht hätten, dieses Ego te absolvo, diese sichtbare, hörbare Gewißheit, diese Bürgschaft Gottes für den Sünder, die Bürgschaft des Gekreuzigten für den, der Ihn kreuzigt – ich kreuzige Ihn durch meine Gleichgültigkeit, und eben dadurch bin ich erlöst. Durch meine Sünden bin ich erlöst! Daß ich dieses ungeheuer verwegene Wort sagen darf, das gibt meinem Leben Sinn. Es ist eben das, was geschehen ist, nicht unwiderruflich. Es ist widerruflich! Aus den zeitlosen Zonen bricht es ein, und was geschehen ist, wird ungeschehen gemacht. Ich bin erlöst, gelöst von diesen scheinbar unauflösbaren Banden an das Vergangene.
Das ist das, was uns erhebt, beseelt, mit ungeheurer Freude erfüllt. Immer wieder wirst Du hergestellt. Alles je Gute in Deinem Leben, was je Du an Sakramenten, an Gnaden empfangen, Großem erlebt, erfahren hast an Beglückendem, Schönem, Erhebendem, was je Du gebetet, geopfert, gelitten, geleistet hast: all das wird Gegenwart! Das ist die spezifische Gnadenfolge und Gnadenwirkung des Ego te absolvo. Es wird in die Gegenwart hineingeholt, wird erneut wirksam, belebend, und Dein ganzes Dasein wird ein lichter, ungeteilter Zusammenhang. Du kannst wieder Dein Haupt hoch tragen und in einem äußersten Selbstbewußtsein sagen: "Ich bin unverdienterweise zur Höhe Gottes emporgehoben und in Gott bestätigt, und für die Ewigkeit gültig ist mein Dasein."
Wenn das nicht wäre, was wäre dann? – Ich wäre ein Zufall, ein XY, in die Zeit gespuckt und in die Zeit hinein verloren, verwehend und vergehend, irgendeiner unter Milliarden, nicht nennenswert, und es ginge die Planierraupe der Gleichgültigkeit hinweg über die Frage, ob ich bin oder ob ich nicht bin. So aber werde ich in die Senkrechte hinaufgehoben und in meiner Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, Unvergleichbarkeit, Unverwechselbarkeit höchstens bestätigt, Du und ich!
Das ist das große Geschenk, das mit dem Wort "Bußsakrament" ausgesprochen ist. Es wird da so viel gefaselt. Kürzlich las ich es wieder bei einem sonst sehr bedeutsamen Historiker, dieses läppische, schnöselhafte, geradezu schnöselhafte Hinweggehen über das Bußsakrament, dieses Palaver über die Ohrenbeichte und über die Macht, welche der Klerus durch die Ohrenbeichte über die Gläubigen an sich zu raffen gedachte. Das ist alles ein unsagbar törichtes Gerede. – Es ist die Herrlichkeit! Ich darf hintreten, ich darf es hören. In meiner tiefsten Verlorenheit genügt ein Augenblick des Ego te absolvo, um mich total von der Hölle, von der Verlorenheit in den Himmel hinaufzuwenden. Welches Glück! Er ist es selber, der ewige Freund, mein angebetetes Leben, der dann Dir ins sündige, neu belebte, verwandelte Antlitz verwandelnd schaut: "Ich bin es. Fürchte Dich nicht!" AMEN.
actio spes unica · Schulstraße 7 · 65795 Hattersheim | info@spes-unica.de |