Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
Sonntag Quinquagesima 1985
Meine lieben Brüder und Schwestern,
Christus zeigt, daß die Jünger noch nicht reif waren, noch nicht bereit zur Einweihung. Sie waren noch nicht offen für das Wesentliche. Denn die Einweihung, das, um was es geht, ist der Tod, das Leiden, die Auferstehung des Gottmenschen. Und es durfte in den ersten Zeiten des Christentums niemand am heiligen Opfergeschehen teilnehmen und des heiligen Opfergeschehens ansichtig werden – und das Teilnehmen ist das Ansichtig-Werden, das Hören und das Schauen –, niemand durfte es, der nicht zuvor eingeweiht war in die Mysterien. Und das sind die Mysterien: Leiden, Tod, Auferstehung des menschgewordenen Gottes für dich, um deinetwillen, weil du es bist. Darum opfert sich der Gottmensch. Das ist die äußerste Liebe, eine nach menschlichen bzw. innerweltlichen Maßstäben wahnsinnige, eine verrückte Liebe, eine Liebe, die völlig unerwartet, gegen alle Regeln üblicher Vorstellung sich dartut. Unendlich, absolut ist diese Liebe. Denn Gott betritt als Mensch gottfeindliches Gebiet. Der Fürst dieser Welt, Satan, prägt der Welt seinen Stempel auf. Und die aus der Welt sind, von unten her denken, sie sehen in Christus den Störenfried. Sie wollen Gott nicht in ihrer Nähe haben. Sie wollen nicht Gottes Unmittelbarkeit. Sie wollen nicht Gottes Totalität. Sie wollen nicht, daß das Unendliche Gestalt annimmt im Fleische, im gesprochenen Wort, in klar vernehmbarer Formulierung. Sie wollen nicht das Unendliche in der Gestalt von Raum und Zeit – Ihn. Sie wollen den fernen Gott, den unverstandenen Gott, der im Maße des Unverstandenseins uns im Unverbindlichen beläßt. Das will die Welt, die die Finsternis mehr liebt als das Licht. Jetzt kommt das Licht in die Welt und liebt. Das, was die Welt dem Lichte, dem fleischgewordenen Worte zufügt, das verwertet Christus zugunsten dessen, der es Ihm zufügt dadurch, daß er es Ihm zufügt, weil er es Ihm zufügt. Also alle Gemeinheit, Bosheit, Aggression, Tötung, Erniedrigung, Schändung, Verspottung verwertet Christus zugunsten dessen, der Ihn erniedrigt, verspottet, quält, schändet, tötet, weil er und dadurch daß er Ihn erniedrigt, schändet, verspottet, quält, tötet. Das ist die absolute Liebe. Darum: Wer diese Liebe ablehnt, nicht will, für den bleibt nur noch das Nichts. Daher ist mit dieser absoluten Liebe logisch notwendig die Hölle gegeben. Sie widerspricht nicht der absoluten Liebe, sondern sie ergibt sich aus der absoluten Liebe. Wenn das Salz schal wird, womit soll es gesalzen werden? Wer die absolute Liebe nicht will, dem bleibt nur das Nichts und das unerträgliche, absolut unerträgliche Ertragen-Müssen des Nichts. Christus liebt absolut. Weil wir sündigen, liebt Er. Durch unsere Sünden sind wir geheilt.
Wir töten Gott. Und sein Getötetwerden läßt Er uns, die wir Ihn töten, zugute kommen. Wir alle töten Ihn durch unsere Gleichgültigkeit, durch unsere Oberflächlichkeit, durch unsere Selbstsucht, durch unsere falsche Einstellung, durch unsere miesen Beweggründe. Es war unsagbar töricht Juden anzuklagen: Das sind diejenigen, die Christus ans Kreuz geschlagen haben. Du und ich, wir haben Ihn ans Kreuz geschlagen. Juden und Nichtjuden, jeder hat Ihn ans Kreuz geschlagen durch die Kälte und Unredlichkeit und Falschheit, Verbogenheit seiner inneren Beweggründe. Du und ich, wir haben Gott gemordet. Und aus Seinem Gemordetsein strömen Blut und Wasser und Geist heraus auf den, der Sein Innerstes durchbohrt, weil er Sein Innerstes durchbohrt – vorausgesetzt, daß er, der Mörder, die Gnadenströme des Ermordeten will. Das ist die äußerste, die absolute Liebe. In diese Liebe eingeweiht zu sein und diese Liebe für sich ständig zu erbitten ist das Wesen des Christseins.
Die Jünger verstanden nichts. Und es ist bezeichnend, daß gleich darauf die Begebenheit berichtet wird vom Blinden am Wege. Er kann von sich aus nicht sehen. Und er ruft aus der Tiefe seiner verwundeten Seele: "Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner." Und er läßt sieh nicht beirren und ruft es immer wieder. Warum ruft er es? – Weil er sehend werden will. Das meint der Herr mit "ohne Unterlaß beten". Damit meint Er nicht quantitative Gebetshäufungen, sondern das unablässige, beständige Wollen: "Herr erbarme dich. Öffne die Augen meines Geistes, daß ich eingeweiht werde in eine Liebe, von der die Welt nichts weiß." – Wir lesen es in der Epistel, das sogenannte "Hohelied der Liebe" (1.Kor. 13-14). Christus ist das Vorbild der Liebe, der es um den geht, der geliebt wird. An und für sich eine Selbstverständlichkeit, aber eine leider kaum begriffene Selbstverständlichkeit. Liebe heißt Entbranntsein für das DU, Besessensein vom DU. Liebe heißt: Weil du es bist in deiner Einmaligkeit, darum gehöre ich dir und setze mich ein für dich. – Ganz im Gegensatz dazu steht die Sammelwut, die auf Liebeswerke und Häufung von Liebeswerken aus ist, um "Verdienste" zu sammeln. "Ich will Gutes tun. Und jetzt suche ich mir die Opfer. Ich stelle eine Liste zusammen, um Gutes tun zu können. Ein X, ein A, ein B, ein Y, ein Z usw., die suche ich mir aus und gehe hin: Jetzt bist du dran. Jetzt werde ich an dir Liebe üben. Denn ich will Verdienste sammeln. Du bist mir gerade recht. Du kommst mir wie gerufen. Hoffentlich finde ich noch mehr XY's, an denen ich meine Liebeswerke häufen kann." – Diese Liebe sieht dann auch danach aus. Sie hat weithin die Gestalt der Entmündigung. "Versorgung" und "Entmündigung" sind zwei Worte für ein und dasselbe: Verdienste sammeln. Der, demgegenüber man Liebe übt, ist einem dann egal. Hauptsache, man hat ein Objekt gefunden. Das ist das quantitative Denken und Wollen des Pharisäers. Christus will es ganz anders. Deshalb sagt Er durch den Mund des hl. Paulus: "Und wenn ich mein ganzes Hab und Gut den Armen geben würde, hätte aber die Liebe nicht... " (1.Kor. 13,3). Ich kann also alles hergeben für die Armen, ohne die Liebe zu haben. Ich kann meinen Leib verbrennen lassen, ohne die Liebe zu haben, fanatisch einer Sache verschworen sein, im Trotz, im Haß mein Leben hingeben und mit einem Fluch auf den Lippen sterben für die Sache, der ich mich verschworen habe. Dieses Blut wäre ein schlechter Zeuge. Und ich kann einen Glauben haben, der Berge versetzt. Auch aus hysterischem Fanatismus kann der Mensch in der Kraft der Dämonen Unglaubliches vollbringen und Wunder wirken. Aber das ist nicht der Glaube. Der wahre Glaube ist eine Ausstrahlung der Liebe. Dem wahren Glauben geht es um den, dem man glaubt, an den man glaubt, dem man sich verschwört. Es ist immer das einmalige DU. "Mir geht es um dich, weil du es bist." Und wenn ich einmal entbrannt bin für das DU, dann ist mir alles, was ich tue, viel zu wenig, weil die Liebe kein "Genug" kennt, sondern unendlich ist. Und Christus hat gezeigt, wie Er liebt. Das hat Ihm den Haß eingetragen. Er hat durch Seine Liebe Unzähligen das Vergnügen geraubt, sich besser zu dünken als andere. Er hat durch Seine Liebe jedem geoffenbart, daß er der absoluten Liebe und des totalen Erbarmens bedürftig ist. Du, du und ich, jeder einzelne bedarf des ganzen, ungeteilten, flammenden Dennoch-Erbarmens. Und das Erbarmen ist so absolut, daß es ein "Deswegen-weil-Erbarmen" ist; weil ich sündige, weil ich armselig bin, darum kommt das Erbarmen, strömt es in mich ein. Und das Erbarmen weckt mich, daß ich das DU erkenne, daß die Augen meines Geistes geöffnet werden für Ihn – "Für Dich, Herr. Du bist es." Und dann sehe ich Ihn in jedem Menschen. Und in jedes Menschen Einmaligkeit finde ich des Herrn jeweilige Einmaligkeit. Liebe heißt also, dem DU verschworen sein. Das ist die Grundvoraussetzung. Darum müssen wir flehen, immer wieder flehen, nicht nachlassen zu flehen.
Das ist etwas ganz anderes als Gebetshäufungen, um "Verdienste" zu sammeln. Wer Verdienste sammeln will, um vor Gott besser abzuschneiden, um sich ein rotes Röckchen zu verdienen, der läßt Gott außerhalb und meint, vor Ihm bestehen zu können mit Sammlungen. Alle Addition, jegliches Aggregat, Katalog, Liste, Aufzählung, all dieses "Und, und, und, und, und", das sind Kategorien des Pharisäischen. Der wahrhaft Liebende ruft aus seiner brennenden, drängenden, verlangenden Liebe heraus: "Erbarme dich meiner!", und er hört nicht auf. Nicht weil er seine Anrufungen zählt: Ich habe soundsoviel Anrufungen zustandegebracht und hingekriegt; oder bei der Ankunft am Wallfahrtsort: Wir haben auf der Fahrt zehn Rosenkränze und fünfmal die Fünf Wunden und was weiß ich nicht alles und zwanzig Litaneien zusammengekriegt. Das ist natürlich der Sauerteig des Progressismus, der so zählt und rechnet. Die Liebe zählt nicht, rechnet nicht und bemerkt nicht, was sie tut. Aber aus dem Drang heraus betet sie unablässig: "Komm. Erbarme dich meiner." Der Blinde am Wege hört nicht auf zu rufen und glaubt, daß ihm die Augen geöffnet werden. Und wir müssen rufen um das Erbarmen, damit uns die Augen geöffnet werden für das Geheimnis. Du meinst, sie wären schon geöffnet? "Ich glaube doch!" – Nein. Ich würde mich nicht erdreisten zu behaupten, ich würde glauben. Nur der hat eine Glaubenschance, wie ich immer wiederhole, der einsieht und vor sich selber eingesteht, daß er eben nach nicht glaubt. Dessen Glaube hat Chance. Deshalb muß ich gestehen, daß ich eine unheilbare Schwäche habe für glasklare Atheisten. Sie haben ein gewaltiges Interesse am Glauben, ein solches Interesse am Glauben, daß sie ununterbrochen behaupten: Ich glaube nicht. Sie sind sehr schnell drinnen. Und wenn sie drinnen sind, dann sind sie es echt, wahrhaftig, ergriffen, gepackt. Denn der hat eine große Glaubenschance, der zunächst stutzt und schockiert ausruft: "Das kann doch nicht wahr sein! Das sollte wahr sein? – Ich kann es nicht glauben. – Wie? Es ist doch wahr. Jetzt ist es um mich geschehen." – Sehen Sie, das ist der Weg zum Glauben. Nicht das schläfrige, bleierne, gähnende "Ei ich glaube ja", sondern die Einsicht: "Ich glaube nicht. Herr, hilf meinem Unglauben." Das ist die Voraussetzung zum Glauben. Und Glaube, das ist höchste Bewegung, Feuer, Lebendigkeit, äußerste Vitalität. Das ist der Glaube. Nicht dieser stumpfe, brave, schläfrige Bürgerglaube, der Bürgertrott, das brave Pflichtpensum, das sich da "Glaube" nennt, illegitimerweise "Glaube" nennt, sondern: "Herr ich glaube nicht. Hilf mir, daß ich glaube." Und die in sich diesen Brand haben, dieses Feuer, dieses Verlangen "Hilf meinem Unglauben", deren wahrer Glaube steckt an, während die, die sich dauernd wie ein klumpig fleischgewordener Glaube aufprotzen, nur bewirken, daß sie abstoßend wirken. Sie züchten entweder Pharisäer, oder sie züchten Ungläubige. Wahrhaft Gläubige züchten sie nicht. Denn der wahre Glaube und die wahre Hoffnung sind liebeträchtig und erweisen sich in der Liebe, die diesen Namen mit Recht trägt: Du – du entbrannt, du entflammt, du besessen, weil du es bist. Und weil Christus so einsteigt in die Tiefe des jeweils einzigen, einzelnen, einmaligen Menschen, darum haßt Ihn die Welt, die sammelt und in der Waagerechten vergleichen will und wo sich der eine dem anderen gegenüber besser dünken will, die Welt der Sammlung, die Weit des Kollektivs. Dem stellt Christus die Welt des einzig einmaligen DU entgegen. Das ist die neue Dimension. Das meint Paulus. Er registriert das Geschwirr und Gewimmel, das in den Gemeinden umgeht: Zungensprache, plötzliche hysterische Ausbrüche, ostentative, aufdringlich penetrante Erleuchtungsszenen. "Weg damit!" sagt er. "Das sind keine Charismen. Das sind keine wahren Gnadengaben. Ich will euch die wahre Gnadengabe sagen: die Liebe, der es um das DU geht, um das DU Gottes und um das gottbesiegelte DU des Menschen." –
So müssen sie es verstehen. Er sagt den Jüngern etwas, von dem Er weiß, daß sie es noch nicht begreifen können. Allerdings ist es keine bockige Art des Nicht-Begreifens. Sie leiden darunter, daß sie es nicht begreifen. Sie sind bestürzt. Sehr bezeichnend ist: Er nimmt sie beiseite, abseits von der Menge. "Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem", in die Senkrechte, abgehoben, hinaufgehoben, abgegrenzt von der Masse als solcher und darauf bedacht, aus der Masse den Menschen, den Menschen, zu erlösen. Und der von der Masse erlöste Mensch, das ist immer das unendliche, das lohnenswerte "Nur".
Der Mensch fängt an Mensch zu sein in dem Maße, wie er von Gott hinausgeweckt, hinauferlöst wird – "hinauf nach Jerusalem", außerhalb der Mauern, außerhalb des üblichen, schläfrigen Trottes, außerhalb der falschen, nicht legitimen Gemütlichkeit und selbstgefälligen Behaglichkeit, draußen mit Christus, in Christus den Altar des Opfertodes besteigen. Das ist das Neue. Das ist die Liebe. Das ist die große Erweckung.
Lassen Sie mich jetzt noch etwas sagen zu dem Begriff "Eros". Es gibt Theologen, die sagen, für uns Christen gelte nur die Agape, die Caritas, aber nicht mehr der Eros. Das ist hochgradiger Unsinn. Überhaupt: Tief denkende Theologen haben immer gewußt, daß man ohne das Wort "Eros" nicht auskommt, weil es unersetzbar ist. Daß dieses Wort heute mißbraucht und in den Schmutz gezogen wird, kann uns nicht anfechten. Je wertvoller, größer, erhabener etwas ist, um so eher ist es mißbräuchlich. Es ist etwas mißbräuchlich im Grade seines Wesensranges. Ich will es anhand des Gleichnisses des Herrn deutlich machen, der da sagt: "Wenn das Samenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Fällt es aber in die Erde und stirbt, so bringt es viele Frucht", d.h. es findet zu sich selbst, es entfaltet sich. Das in die Erde fallende Samenkorn ist keine Agape, sondern Eros. Eros ist der Drang hin, das Begeistertsein, Besessensein von dem, in das man hineinkommen will. Eros ist die heilige Unruhe, die über die Grenzen hinausschreitet. – Stellen Sie sich vor, man sagt von jemanden, er hat eine große Liebe zur Philosophie, eine große Liebe zur Dichtung, zur Musik. Das Wort "Liebe" ist da etwas blaß, weil es abgenutzt ist. Hier gehört das Wort "Eros" hin. Sie können doch nicht sagen, er hat eine große Caritas für die Philosophie oder für Hölderlin oder für Bruckner. Das ist Eros, das Hindrängen zu, die grenzüberschreitende Bewegung, das Sich-Fallenlassen in die Erde. Caritas aber ist das, was die Erde tut: bergen, nähren, weiden, tränken, umsorgen, pflegend hegen, kosen, schützen. Das ist Caritas. Caritas ist die bergende, liebende, aufnehmende, nährende Erde, die Erde, die Gott ist, der menschgewordene Gott, in den wir fallen. Wenn wir also einen Menschen aufnehmen, um ihn aufwachsen zu lassen, dann ist das Caritas – "Agape" heißt es im Griechischen. Aber derjenige, der zu mir hindrängt und saugt und trinkt vom Quell der Weisheit, das ist der vom geistigen Eros Erfüllte. Das Wort "Eros" ist also nicht ersetzbar durch irgendein anderes. Eros und Caritas, Eros und Agape sind aufeinander hingeordnet, ergänzen einander, sind aufeinander bezogen in heiliger Spannung. Daß der Vater den Sohn zeugt, ist Eros. Daß der Sohn in den Vater hineindrängt, ist Eros. Daß der Vater den Sohn in Seinem Schoße birgt, ist Agape, Caritas. Ich denke, es ist so verständlich gemacht worden, was damit gemeint ist. AMEN.
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