Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
Palmsonntag 1987
Meine lieben Brüder und Schwestern,
Jesus wirkt das Gleichnis, das Gleichnis vom zukünftigen und ewigen Jerusalem. Er zieht ein, die Scharen jubeln – ein Bild des endgültigen und ewigen Zustandes des neuen Himmels und der neuen Erde. Aber Jesus ist selbstverständlich beklommen. Und in der Tat zieht sich einem das Herz zusammen angesichts der Massen, die da jubeln. Ihre Gläubigkeit ist in Anführungszeichen zu setzen. Sie jubeln unter völlig falschen Voraussetzungen. Sie mißverstehen die Lage. Es ist ein großes ALS-OB!
Die Hohenpriester hätten sich keine großen Sorgen zu machen brauchen um diese Art Anhänglichkeit des Volkes. Es war nicht das Volk, wie das Volk ganz, ganz selten einmal von der Mehrheit repräsentiert wird! Das Volk wird allermeistens repräsentiert und verwirklicht und ist gegenwärtig in den ganz kleinen Minderheiten und jedenfalls im je einzelnen – aber nie in der Masse! Der Jubel der Masse ist kein Problem. Die Masse hat Erwartungen, die nicht erfüllt werden, und der Jubel schlägt schnell um. Kaiphas hatte da ein besseres Gespür in seiner infamen Einstellung. Er wußte, diese Masse ist schnell herumzukriegen, vor allem wenn sie merkt, daß sie um ihre falschen Hoffnungen betrogen wird. Da war das "Kreuzige Ihn!" sehr schnell zustandegekommen.
Übrigens wird das selbstverständlich so sein bis zum Ende der Tage. Es wird nie so etwas geben wie, daß ein Volk "reif" wird oder "reifer" wird! Das sind die beständigen demokratistischen Illusionen, Umerziehungen seiner Zeit, das mit der "Reifwerdung eines Volkes". Ein Volk in diesem Sinne von Masse wird nie reif, wird nie erzogen, wird auch nie moralisch gebildet. Das gibt es nicht! Die Masse ist eine Bestie, heute, morgen und übermorgen! Man setze kein Vertrauen darauf!
Und Christus war der Letzte, der in die Masse irgendein Vertrauen gesetzt hätte. Er wußte, wie es ausging! Er wußte um das ALS-OB! Die meinten, jetzt bricht die große Revolution aus. Jetzt setzt Er Sich als der Messiaskönig an die Spitze Israels und gründet das neue Weltreich und vertreibt die Römer. Daraus wurde nichts und sollte auch gar nichts werden. So etwas wollte der Herr in Wahrheit nicht!
Was will Er? – Dich, in allem Dich! Es ist in all den Mysterien der Erlösung von nichts anderem die Rede als von Dir – DU bist gemeint! –, von Ihm und von Dir! Und alles, was Er leidet, leidet Er für Dich und meint Dich, Dich allein! Das kann nicht oft genug wiederholt werden! Er schaut Dich an. Und wenn Du hinzutrittst zu den Mysterien der Erlösung, betrittst Du Dein ureigenstes Eigentum, das Deinigste Dein – Du nur Du! Dahin geht Er!
Manche fragen: Warum diese Grausamkeit? Wollte der Vater unbedingt Blut sehen? War das nicht Rachsucht? Werden die Menschen so gestraft wegen ihres Abfalls und ihrer Verweigerung in Adam und Eva, aus der alle Verbrechen sich ableiten und alle Not und alle Verlorenheit? Will der Vater Seinem Sohn so Entsetzliches zufügen?
Er fügt es nicht zu, und es ist so nicht als Strafe zu verstehen! Vorsicht mit "Strafe", "Strafe Gottes" und "Strafgericht"! Auch im Alten Testament hat dies nur eine symbolische Bezeichnung! Gerade in unseren Reihen wimmelt und schwiemelt es nur so von "Strafe" und "Strafgericht Gottes": Er schlägt drein, und es wird Zeit, daß Er einmal dreinschlägt. Und viele freuen sich auf eine solche Vergeltung mit einem leichten, unbewußten, romantischen Unterton, wie man sich auf ein Gewitter am Rhein freut. Das durchbricht den Alltag.
Das alles sind falsche Vorstellungen und Illusionen! Die Strafe fügt sich der Mensch zu! Wer sich von Gott löst, gibt sich Satan preis! Er fügt zu, Satan! Er wirft die Lose, er erschafft das Unheil und das Grauen, das brüllende Grauen, das in den Seelen und unter den Dächern wuchert! Wenn ich so durch die Straßen gehe oder Fassaden sehe, da denke ich immer, wieviele Tragödien unter den Dächern, verborgene Tragödien es doch gibt. Und die meisten und die schlimmsten Tragödien sind verborgen!
Und was tut Christus? Wie wiegt Er die Verweigerung Adams und Evas, in denen wir drinnen waren, auf? Wie macht Er es gut? – Durch Seine Liebe, und zwar durch die Liebe zum Vater! Und Er setzt nun die Liebe zum Vater, Seinen ewigen Hingang zum Vater, Seine ewige ekstatische Hingabe, Seinen Drang zum Vater hin nun an den äußersten Enden und nimmt in diese Hingabe zum Vater hinein die Not der Menschen, ihre Verlassenheit und Verzweiflung, ihre Vergeblichkeit und ihre Sünde und ihren Tod! Und das Furchtbarste ist die Sünde – furchtbarer als alles Leid! Nur erfahren Du und ich nicht die Furchtbarkeit der Sünde. Wir sündigen, aber wir erleben nicht das, was Sünde ist! Der Gottmensch erlebt es, und Er nimmt dies, was Sünde ist – Absonderung von Gott, außerhalb Gottes sein, das NICHTS! –, dieses ganze Grauen der Gottesferne nimmt Er hinein und macht es zum Medium Seines Hinganges zum Vater. Er verwandelt all dies in Liebe. Sein ewiges Hindrängen zum Vater, der Sog zum Vater hin, weitet sich also aus in die untersten höllischen Möglichkeiten menschlicher Existenz, menschlicher Seele. Und da Er von daher kommt, durchschreitet Er das feindliche Gelände. Und daraus ergibt sich notwendig Sein seelisches, Sein furchtbar seelisches und Sein körperliches Leiden. Und Er erleidet mit der Sensibilität des menschgewordenen Gottes, d.h. Er erleidet jeden kleinsten Bruchteil jeder Sekunde in höchster Wachheit, in höchster Intensität – das, was Du und ich nicht vermögen! Darum erleidet Er Jahrtausende und Aberjahrtausende! Der Gottmensch leidet jahrtausendelang, so intensiv, daß Sein Leiden kaum ein Ende findet, ein endlos gebreitetes Leiden, das Liebe ist!
"Er ist für uns zur Sünde geworden": dieses Wort des hl. Paulus ist ganz wörtlich zu nehmen. Er sündigt nicht, aber Er wird uns in allem gleich, die vollzogene Sünde ausgenommen. Aber das, was Sünde ist, erleidet Er für Dich um Deinetwillen! Und darum ist es falsch zu sagen, wie es manche meinen in langen Jahren des Leidens, sie treten vor das Kreuz und sagen: "Heiland, Du hast drei Tage gelitten. Ich muss Jahre um Jahre leiden."
IRRTUM! Er erleidet Jahrtausende! Das ist das Leiden Gottes in Dir! Und Er dringt ein in die Abgründe, in Deine Abgründe, von denen Du nichts weißt und ich nichts weiß!
Was weiß ich von meinen Abgründen? – Hie und da geschieht es, daß ich mich nicht wiedererkenne, daß ich ein anderer zu sein scheine, verwirrten und bösen Sinnes. Das bin ICH! Und da ist Er zur Stelle! Und wie ich es öfters sage: Mancher, der sich verworfen wähnt, hingebreitet und hingegossen in der Hoffnungslosigkeit, in der Verlorenheit, versackt und versumpft, aufgegeben von allen und von sich selber, und er fragt sich, "Wie kann ich noch zu Ihm kommen, ich habe keine Kraft mehr aufzubrechen und zu Ihm zu gehen", und da sollte Er Seine Stimme hören – Du und ich sollten Christus diese Stimme leihen –: "Du brauchst nicht aufzubrechen! Ich bin da! Ich bin ganz nah in Dir und bei Dir!"
Das sollten wir, Du und ich, solchen Menschen sagen, nicht mit moralischen Mahnungen kommen, wenn einer auf der Nase liegt. Das erreicht das Gegenteil. Das ist vollkommen sinnlos! Hat Christus je denen, die am Boden lagen, moralische Mahnungen erteilt und den Zeigefinger erhoben? – Er hätte nichts erreicht! Er hat gesagt: "Ich bin da. Hier bin Ich! Sei getrost, Ich bin's. Fürchte Dich nicht. Ich weiß alles!" Wie es Johannes mit dem berühmten Wort meint: "Wenn unser Herz uns anklagt, dann ist Er größer als unser Herz, und Er weiß alles." – "Hier bin Ich, bei Dir!"
Und von daher auch Vorsicht mit "Wir müssen aufbrechen zu Christus" oder "Wir sind alle auf dem Pilgerwege zu Christus". Das ist richtig unter einem bestimmten Gesichtspunkt, unter dem Gesichtspunkt der eigenen Vollendung, daß in Dir und in mir noch ein Riesengelände bleibt, daß der Herr erobert und heimholt! Aber man sollte diese Ausdrucksweise meiden mit dem "pilgernden Gottesvolk", als wären wir nicht schon drinnen – Du und ich –, als wären wir auf der Suche gar nach der Wahrheit, als wären wir nicht schon längst drinnen. Wir suchen in der Wahrheit, aber nicht nach der Wahrheit!
Hüten Sie sich vor den Wahrheitssuchern! Die wollen die Wahrheit gar nicht finden! Sie kokettieren mit ihrer Wahrheitssuche und kommen sich wichtig vor, in Zweifeln herumzuagitieren und -zuagieren. Mit denen Vorsicht! Man entlarve sie! Sie bohren gerne, um die Wahrheit ad absurdum zu führen, indem sie aufzeigen, daß wir sie nicht ganz durchdringen können.
Es ist richtig. Wir können sie noch nicht ganz durchdringen, solange wir in diesem Zustande des Kreuzes verharren! Aber wir können nachweisen, daß es keine andere Lösung gibt, daß es keine Alternative gibt, daß es keine Ausweichmöglichkeiten gibt. Dies ist die einzige Lösung! Und wir lassen diese einzige Lösung uns anschauen und harren der Erleuchtung! Diejenigen, die mit der Brechstange vorgehen, wollen immer mit logischer oder scheinlogischer Koketterie irgendwie beweisen, dies kann nicht stimmen und dies geht nicht ineins. Sie richten sich und anderen nichts aus!
Nicht, daß man nicht in der Wahrheit sucht, aber in der richtigen Weise! Harren, in Erwartung sein wie eine Braut, voller Zuversicht, nicht aufhören anzuschauen und sich von der Wahrheit anschauen lassen bis der Kairós kommt, der günstige Zeitpunkt, wo wir von Licht zu Licht und von Erleuchtung zu Erleuchtung schreiten!
"Ich bin schon da. Ich bin an den äußersten Enden und trete meinen Weg an." – Und das bringt die Masse in Harnisch. Das genau will sie nicht! Die Masse will im Kollektiv und im Nebeneinander verharren! Die Masse will abgespeist werden und wird von Christus enttäuscht!
DU frage Dich daher nach Deiner Sehnsucht, nach Deinem Verlangen nach Unendlichkeit! Und dann kannst Du nicht enttäuscht werden! Er geht in Dir den blutigen Weg, nimmt Dich blutig ernst, vergießt Seinen letzten Blutstropfen für Dich, und durch Deine Sünden bist Du geheilt! "Sei getrost, Ich bin's. Fürchte dich nicht!" AMEN.
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